Eine Botschaft auf dem Seder-Teller: Das Ei spiegelt die genaue Position des jüdischen Volkes zum Zeitpunkt seiner Flucht aus Ägypten wider.
von Rabbi Yossy Goldman
Bei Pessach-Sedern auf der ganzen Welt gehört ein einfaches hartgekochtes Ei auf den Seder-Teller. Ich möchte einen Moment darauf eingehen, was wir von diesem Ei lernen können, wie es wirklich auf den Punkt bringt, worum es beim Pessachfest geht, und welche Botschaft es für uns heute hat.
Einer der Gründe, warum wir das Ei am Seder haben, ist, dass es den Beginn des Lebens symbolisiert, und Pessach markiert den Beginn unserer nationalen Existenz. Aber es ist noch präziser als das. Das Ei spiegelt die genaue Position des jüdischen Volkes zur Zeit des Auszugs aus Ägypten wider.
Schauen wir uns die Reise unseres Eies an. Das Ei befindet sich zunächst im Inneren der Henne. Dann wird es gelegt und damit von den Zwängen befreit, die ihm vorher auferlegt wurden. Aber ist das Ei ausgebrütet worden? Ist ein kleines Küken aus der Schale geschlüpft? Die Antwort lautet: Nein. Das Ei ist nämlich nur das Potenzial des Lebens. Es ist noch kein lebendiges Wesen. Eines Tages, so Gott will, wird ein Küken schlüpfen, und der Kreislauf des Lebens wird weitergehen.
Als das jüdische Volk Ägypten verliess, war es wie ein unausgebrütetes Ei. Es war frei von der Gefangenschaft in Ägypten und den Zwängen der Sklaverei, aber es war noch nicht ganz geboren. Es sollte sieben Wochen dauern, bis sie am Fusse des Berges Sinai standen, die grosse Offenbarung Gottes erlebten und die Tora empfingen. Erst als ihnen eine Lebensweise gegeben wurde, erhielt das jüdische Volk einen Sinn. Bis zum Sinai waren wir alle verkleidet und konnten nirgendwo hingehen. Am Pessachfest traten wir aus der Enge Ägyptens hervor wie das Ei, das aus der Henne fällt. Aber erst am Sinai wurden wir geschlüpft und geboren.
Was ist die Botschaft für uns? Politische Freiheit ohne geistige Freiheit ist wie ein unausgebrütetes Ei; sie ist unvollständig. Wir mögen frei und ungehindert sein, aber wir sind immer noch geistig verloren und moralisch verwirrt.

Dort, wo ich lebe, in Südafrika, verstehen wir diese Botschaft sehr gut. Wir haben, Gott sei Dank, in unserem geliebten Land politische Freiheit erlangt. Wir haben nun mehr als drei Jahrzehnte Demokratie mit freien und fairen nationalen Wahlen hinter uns. Jeder hat die Möglichkeit, seine Stimme abzugeben; dennoch ist der grösste Teil der Bevölkerung nach wie vor so verarmt, wie er es vorher war. Zwar haben jetzt viel mehr Menschen Zugang zu Wasser, Strom und Wohnraum, aber für die Mehrheit der Bevölkerung hat sich ihr Leben nicht verändert. Eine Regierung, die aus ehemaligen Freiheitskämpfern besteht, hat sich leider als inkompetent und korrupt auf höchster Ebene erwiesen.
Schlimmer noch, die neuen Freiheiten bringen neue Kulturen, neue Lebensstile und leider auch neue Dekadenz mit sich. Die alten Stammeswerte sind verschwunden; an ihre Stelle ist eine leere, materialistische westliche Anbetung all dessen getreten, was neu und schick ist.
Wir mögen von der Unterdrückung der Vergangenheit befreit sein, aber wir haben noch keine kohärente, gesunde Infrastruktur, die uns hilft, unsere Bestrebungen zu lenken.
Die Freiheit selbst ist also nur die Hälfte der Geschichte. Was wir mit unserer Freiheit anfangen, ist die grosse Frage. Wir brauchen ein Ziel im Leben. Und wir brauchen eine moralische, geistige Infrastruktur, eine Landkarte und einen moralischen Kompass, die uns im Leben Orientierung geben. Andernfalls irren wir ziellos durch die Wildnis, und unsere Freiheit bleibt nicht mehr als ein unausgeschöpftes Potenzial
Lasst uns also keine unausgebrüteten Eier sein. Lasst uns unsere Freiheit weise nutzen und alle unsere Ziele erreichen. Machen wir uns klar, dass Pessach erst der Anfang ist. Wir müssen die Tora studieren, um herauszufinden, wie wir den grösstmöglichen Nutzen aus dieser Freiheit ziehen können, damit wir ein sinnvolles, zielgerichtetes Leben führen und unseren Kindern und Enkeln beibringen können, dasselbe zu tun.
Rabbi Yossy Goldman ist emeritierter Rabbiner der Sydenham Shul in Johannesburg und Präsident der South African Rabbinical Association. Er ist der Autor des Buches «From Where I Stand» über die wöchentlichen Tora-Lesungen, erhältlich bei Ktav.com und Amazon. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate. Übersetzung und Redaktion Audiatur-Online.