Der Eurovision Song Contest (ESC) sollte eigentlich ein unpolitisches Musik-Event sein. Eigentlich. 2025 wird sich das schwer verwirklichen lassen, denn Israels Teilnehmerin, Yuval Raphael, ist ein Opfer des Massakers der Hamas vom 7. Oktober 2023.
Sie hat unter tragisch-unmenschlichen Umständen überlebt. Stundenlang lag sie in einem Strassen-Bunker unter Toten. Jetzt ist sie mit 98-Prozent-Mehrheit von einer Jury in Israel auserwählt, mit ihrem Lied „New Day will Rise“ (Ein neuer Tag wird aufgehen) Israel beim 69. ESC zu vertreten. Zero oder douze points – das ist die Frage, vor der die 37 Final-Länder am 17. Mai in Basel stehen.
Niemand kann und will sich ausmalen, was die inzwischen 24-Jährige am 7. Oktober 2023 durchgemacht hat. Dabei begann alles so friedlich. Sie tanzte mit Freunden auf dem Nova-Musikfestival in Hörweite des Gaza-Streifens die halbe Nacht durch. Am Morgen erhielt sie auf ihrem Smartphone innerhalb weniger Minuten 40 Nachrichten. Irgendwas war im Gange, dachte sie sich, aber die Ex-Soldatin der Israel Defence Forces (IDF) war noch nicht beunruhigt. In dieser Region fliegen immer wieder Raketen. Aber dann kam die dringende Aufforderung, das Festival sofort zu verlassen.
Sie stieg mit Freunden ins Auto, irrte durch die Gegend, bis sie von anderen, die auch auf der Flucht waren, erfuhr, dass arabische Terroristen auf der Strasse 232 auf alles schiessen, was sich bewegt. Irgendwann sprang sie aus dem Auto und verschanzte sich mit weiteren geschätzt 50 Festivalbesuchern in einem der betonierten Strassenbunker, die in der Region seit langem zahlreich aufgestellt sind. Alle hofften, dass bald Sicherheitskräfte auftauchen und dem Spuk ein Ende bereiten würden. Stattdessen dauerte die Hölle an – für Yuval Raphael schier endlos lange acht Stunden.
Über ihr Handy war sie mehrfach mit ihrem Vater verbunden, den sie um Hilfe anflehte: „bitte Papa schick die Polizei“ hauchte sie ins Mikro. Die hochemotionalen Gespräche, immer wieder unterbrochen durch Schüsse und Detonationen, sind fast alle aufgezeichnet. Dokumente des Horrors, die einen zaghaften Eindruck vermitteln, was Yuval und ihre Freunde erleiden mussten.
„Meine Freundin Hadar lag tot da, teilweise auf mir“, erzählt Yuval und unterstreicht ihre Worte mit Handbewegungen. Die Terroristen tauchten mehrfach in dem Bunker auf, schossen wie wild um sich und warfen Handgranaten. „Es waren keine Maschinengewehr-Salven, es machte Bumm, Bumm, Bumm und danach war es immer ruhig“. Irgendwann spürte sie wie ihr „rechtes Bein anschwoll und schrecklich wehtat“, aber sie folgte dem Rat ihres Vaters, der sie beschwor, nicht aufzustehen. „Bleib liegen, stell dich tot, wir kommen und holen dich, hab Vertrauen“, flüsterte es aus ihrem Handy.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, stand tatsächlich ein Mann im Bunker mit einer Waffe, die auf den Ausgang gerichtet war und schrie: „steht auf, wir sind eure Rettung“. Worte, die Yuval nie wieder vergessen wird.
Monate später singt Yuval Raphael im Studio in Tel Aviv vor einem Publikum, das sich fragt, woher diese Frau die Kraft nimmt:
„Ein neuer Tag wird aufgehen
Das Leben geht weiter
alle weinen wir
weine bitte nicht allein
Das Dunkel geht vorbei
Der Schmerz wird nachlassen
Ich wähle das Licht
Und wir bleiben zusammen für immer
auch wenn Du goodbye sagst“,
heisst es (übersetzt) in ihrem gemischt englischen und hebräischen Liedtext.
Ihre Stimme ist eine Mischung aus Wehklagen, Hoffnung und Zuversicht, die eine Klangfarbe erzeugt, der man sich nach Meinung der Jury und des Publikums nicht entziehen kann. Wird es aber überhaupt zu einer Beurteilung ihres beseelten, musikalischen Könnens kommen? Allein das Wort „Israel“ ist inzwischen so sehr belastet, dass man gewalttätige Demonstrationen im Umfeld der Jakobshalle, wo das ESC-Finale in Basel stattfindet, nicht ausschliessen kann.
Ausgerechnet in Basel, wo im Sommer 1897 der erste Zionistische Weltkongress unter Leitung von Theodor Benjamin Herzl stattgefunden hat. Damals wurde der unwirkliche Grundstein für die Wiedergründung des Staates Israel gelegt, der heuer trotz allem stolz sein 77. Jubiläum feiern kann. Ausgerechnet in einer Event-Halle, die nach Jacob benannt ist, einem der drei Väter des Judentums, dessen zwölf Söhne die Stämme Israels bilden. Und ausgerechnet ein Frau namens „Raphael“ überlebt das Massaker und singt ihren Schmerz und ihre Hoffnung hinaus in die Welt des ESC. Übersetzt heisst ihr Name: Gott heilt.
Ich wünsche ihr, dass sie gewinnt.
Das ist unglaublich, wie diese Frau es fertig bringt aufzustehen, zu singen, und was für ein wunderschönes Lied! Ich habe das Nova-Gelände und andere Orte vor einem Jahr besucht und bin immer noch tief betroffen. Also wenn es möglich wäre, so würde ich ihr 120 Punkte geben!