Von der Welt vergessen – Ein Vater zerbricht am 7. Oktober

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Trauer am Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf dem Gelände des Nova Music Festivals. Foto IMAGO / Middle East Images
Trauer am Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf dem Gelände des Nova Music Festivals. Foto IMAGO / Middle East Images
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Der Monat Adar (heuer März) ist im Judentum ein Monat der Freude. Es ist der Geburtsmonat von Moses, der bekanntlich das Volk der Juden aus der ägyptischen Sklaverei in die Freiheit geführt hat. Für die israelische Familie Bongart in Karmiel, im Norden Israels, ist der aktuelle Adar ein Monat tiefster Trauer. Vater Vladislav hat sich das Leben genommen, heisst es lapidar in einer Pressemeldung. Er konnte den Schmerz nicht mehr ertragen. Seine Tochter Sofia wurde am 7. Oktober ermordet.

Das ist eine der Nachrichten, die im Nirgendwo, im Trubel der Zeit untergehen. Keine Demo gedenkt des 48jährigen Vaters, der monatelang ans Grab seiner Tochter pilgerte und immer wieder die schmerzliche Frage stellte, auf die er keine Antwort erhielt: warum ausgerechnet meine kleine Sofia, deren Erwachsenenleben mit 21 Jahren gerade erst begonnen hatte? Und wo wird ausserhalb Israels eine Kerze für Sofia angezündet?

Familie Bongart wanderte 2006 aus der Ukraine nach Israel ein. Sofia war im Kindergartenalter. Der Traum, in Israel eine eigene Wohnung zu kaufen, erfüllte sich schneller als geplant. Vladislav fand eine feste Anstellung in der Militär-Industrie. Das Familienglück war perfekt, als die zweite Tochter, Evelina, geboren wurde. Sofia war in der Schule beliebt. „Sie war ein ruhiges und wohlerzogenes Mädchen. Sie respektierte immer ihre Mitmenschen und war sehr kontaktfreudig“, erzählt ihr Lehrer. Ihre Militärzeit verbrachte sie in einer Einheit für soziale Einrichtungen.

Dann kam der 6. Oktober 2023, an dem Sofia mit ihrem Freund Liraz Nissan überlegte, zu welchem Fest sie am 7. Oktober fahren. Sie wollten Simchat Tora, das Fest der Bibel, auf ihre Art feiern. Zur Wahl stand das Nova-Musikfestival im Süden und eine Party am See Genezareth. Das Paar traf die falsche Entscheidung. Am frühen Morgen an jenem Samstag stiegen sie gegen drei Uhr ins Auto und fuhren in Richtung Gaza. Die Eltern erhielten noch eine Textnachricht übers Handy: „wir sind gut angekommen“.

Kurz danach begann die Hölle, die Sofia und Liraz als solche nicht auf Anhieb erkannten. Die vielen Raketen waren keine allzu grosse Überraschung. In dieser Gegend flogen immer wieder Geschosse auf Israel.

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„Sie war ein ruhiges und angenehmes Mädchen, sehr gesellig.“ Sofia (ganz rechts) und ihre Familie. Foto Walla

Doch dieses Mal war es anders, ganz anders. Plötzlich tauchten Männer in grosser Zahl auf und schossen wild um sich, auf alles, was sich bewegte. Sofia und ihr Freund wollten flüchten, trafen aber wieder die falsche Entscheidung.

Sie liefen in Richtung Be´eri, ein Kibbuz, der von den Hamas-Terroristen am schlimmsten heimgesucht wurde. Es gab auch kein Zurück mehr. Sie waren von schiesswütigen Terroristen umzingelt. Die vermeintliche Rettung war ein Bunker am Strassenrand, in den sich mehr als ein Dutzend junger Festivalbesucher drängten. Die Terroristen kannten kein Erbarmen: sie warfen Handgranaten in das betonierte Verliess. Liran lag auf ihr, als sie aus einer kurzen Bewusslosigkeit erwachte. Er war tot.

Gegen 8.00 Uhr erhielt die Mutter die letzte Nachricht von ihrer Tochter, die in grösster Not war: „Ich liebe euch. Ich war mit den besten Eltern gesegnet“. In ihrer Panik traf Sofia eine weitere falsche Entscheidung an diesem Morgen. Anstatt liegen zu bleiben, sich tot zu stellen – so überlebten einige den 7. Oktober – stand sie auf und wollte vor ihren Angreifern davonlaufen. Die Kugeln aus einer oder mehreren Kalashnikovs waren schneller. Helfer fanden sie später tot auf der Strasse irgendwo zwischen dem Gelände des Musikfestivals und Be´eri.

Seit ihrer Beerdigung ging Vater Vladislav zwei Mal die Woche zum Grab seiner Tochter und legte schweigend eine Rose ab. Rosen waren Sofias Lieblingsblumen. Bei der Arbeit erzählte er niemandem von seiner grossen Trauer. Er wollte nicht bemitleidet werden. So viele Eltern hatten in jenen Tagen ihre Töchter, Söhne und Familienangehörige verloren. Seine Frau Anna spürte, dass der Verlust der Tochter ihn von innen auffrass. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sich selbst etwas antun würde.

Dann kam der Tag im Monat Adar, an dem sie mit ihre Tochter Evelina von einem Verwandtenbesuch nach Hause kam und ihren Mann tot auffand. Der Schmerz über den Verlust seiner ältesten Tochter hatte ihn überwältigt. Von der kleinen Familie Bongart bleibt eine Witwe und eine halbwaise Tochter zurück. Mutter Anna gibt aber nicht auf. Der Kredit auf die Eigentumswohnung muss abgezahlt werden. Das Leben geht weiter.

1 Kommentar

  1. Was wohl passieren wird wenn alle Geiseln zurück in Israel sind, und die israelische Armee dann richtig freie Hand hat?

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