
Ralph Steigrad ist Präsident der Schweizer Gemeinschaft in Israel (Swiss Community Israel – SCI) und vertritt 24’000 Schweizer in Israel bei der Auslandschweizer-Organisation (ASO). Audiatur Online unterhielt sich mit ihm zu den Auswirkungen des 7. Oktobers auf die Auslandschweizer, die Auswanderung nach Israel und den Schweizer Dialog mit der Hamas.
Herr Steigrad, aktuell verfolgt die ganze Welt die Freilassung der Geiseln. Was sind Ihre Gedanken dazu?
Mich hat es zutiefst erschüttert, dass dieser Austausch von Gefangenen und Geiseln in ein unmenschliches Spektakel verwandelt wurde. Es war erschreckend zu sehen, wie die Hamas Menschen zu blosser Ware degradiert. Ich fand es daher angemessen, dass dies in den Schweizer Medien als unmenschlich bezeichnet wurde.
Besonders befremdlich war für mich, dass die Medien weltweit diese Bilder unzensiert ausstrahlten. Oft werden solche Aufnahmen aus Rücksicht auf die Betroffenen zurückgehalten – doch bei jüdischen Geiseln schien man eine Ausnahme zu machen.
In Israel lebt eine grosse Schweizer Gemeinschaft. Wie hat diese den 7. Oktober erlebt?
Den 7. Oktober kann man nicht einfach ‘erleben’ – man muss das Geschehene erst einmal begreifen. Zunächst war da Schock, dann ein langwieriger Prozess der Verarbeitung. Ich habe viele Menschen mit Schlafstörungen und Sprachlosigkeit erlebt – eine regelrechte Unfähigkeit, das Geschehene in Worte zu fassen.
Auch persönlich war ich betroffen: Ein entfernter Verwandter, der in Be’eri lebte, wurde ermordet, seine Frau Judith Weiss als Geisel genommen. Sie war eine der ersten Geiseln, die am 17. November im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza ermordet wurde. Es dauerte Monate, bis ich das überhaupt annähernd verarbeiten konnte.
Wie haben Sie den Angriff der Hamas organisatorisch bewältigt?
Inmitten des Chaos habe ich mich darauf konzentriert, pragmatisch zu helfen. In Israel waren zu diesem Zeitpunkt 1’600 Schweizer Touristen – viele zu den jüdischen Feiertagen bei Verwandten, andere wegen des geplanten, dann abgesagten Fussballspiels Schweiz-Israel.
Die Swiss strich sofort alle Flüge, sodass wir über die ASO drei Rückflüge organisieren mussten – zu wenig für den tatsächlichen Bedarf. Ich verbrachte unzählige Stunden am Telefon mit gestrandeten Schweizern, kümmerte mich um Medikamente, Mobilfunkverträge und psychologische Unterstützung.
Nach etwa einer Woche ebbte diese Arbeit ab – doch dann kam der Schmerz. Viele Israelis und auch einige Mitglieder der Schweizer Gemeinschaft verloren Angehörige oder Freunde. Beim Stammtisch mit Botschafter Urs Bucher am 18. Januar sprach unter anderem der Bruder von Judith Weiss, der mit einer Schweizerin verheiratet ist.
Am 8. Oktober 2023 griff die Hisbollah den Norden Israels an. Viele Ortschaften wurden evakuiert. Waren auch Schweizer betroffen?
Ja, sogar viele. Wir versuchten, sofort Unterstützung zu leisten. Im Kibbuz Chanita leben zahlreiche Schweizer, darunter eine Verwandte von einem bekannten Schweizer. Auch in Kirjat Schmona, Neot Mordechai, Safed und Naharija leben viele Schweizer. Die meisten wurden in Tiberias in Hotels untergebracht – und waren es noch Monate später. Deshalb organisierten wir dort am 18. Januar 2024 ein Treffen und am 24. November 2024 ein weiteres mit dem neuen Schweizer Botschafter Simon Geissbühler.

Die Schweizer Gemeinschaft in Israel ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Warum wandern viele Schweizer Juden nach Israel aus?
Jeder hat eine eigene Geschichte, aber es gehen nicht nur jüdische Schweizer nach Israel. Manche ziehen aus beruflichen Gründen um, andere heiraten in Israel, wieder andere fühlen sich kulturell oder religiös zum Land hingezogen und manche Einwanderer sind ultraorthodoxe Schweizer Juden, die wenig Kontakt zur restlichen Gemeinschaft haben. Die Gemeinschaft ist sehr gemischt und die Mehrheit ist weltoffen und kulturell interessiert.
Ich hätte erwartet, dass nach dem 7. Oktober viele Schweizer zurückkehren würden. Einige Bekannte von mir taten das auch, aber das Konsulat berichtete mir sogar von einem leichten Anstieg der Einwanderung.
«Das Konsulat berichtete mir sogar von einem leichten Anstieg der Einwanderung.»
Wie sehen Sie die Zukunft der Schweizer Gemeinschaft in Israel?
Mit dem Anstieg des Antisemitismus in Europa dürfte die Schweizer Gemeinschaft weiterwachsen. In Israel wird in einem atemberaubenden Tempo gebaut – das zeigt, dass viele Menschen hier eine Zukunft sehen. Ich hoffe, dass unsere Gemeinschaft multikulturell bleibt und sich weiter für Frieden und ein Miteinander engagiert.
Die Schweiz pflegte jahrelang diplomatische Kontakte zu Hamas und Hisbollah. War das in der Schweizer Gemeinschaft ein Thema?
Ja, wir wussten das – und es gab Versuche, dies zu ändern. Ein Antrag der Schweizer Gemeinde im Auslandschweizerrat forderte, dass Schweizer Gelder nicht direkt an die Hamas fliessen. Es sollte nur für konkrete Dienstleistungen bezahlt werden. Dieser wurde abgelehnt mit der Begründung, die Hamas sei eine gewählte Regierung. Dadurch landeten Schweizer Steuergelder wohl indirekt weiter im Waffenarsenal der Hamas.
Am 25. November 2023 beantragte man bei der ASO, die Hamas offiziell als Terrororganisation einzustufen. Die ASO lehnte dies ab – angeblich, weil der Antrag zu spät eingereicht wurde. Kurze Zeit später entschied der Bundesrat jedoch unabhängig davon, die Hamas als Terrororganisation zu klassifizieren. Generell haben wir die Schweizer Nahostpolitik viel diskutiert. Uns war bewusst, dass Botschafter Ruch oft in Gaza war.
Wie gestalten sich die Beziehungen der Auslandschweizer in Israel zum Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA)?
Derzeit sind sie sehr gut – nicht zuletzt dank der ASO. Auch das Verhältnis zur Botschaft und zum Konsulat sind hervorragend.
Das war nicht immer so. Es hängt stark vom jeweiligen Botschafter ab. Botschafter Ruch hatte eine eher israelkritische Haltung, während Urs Bucher als menschlich und engagiert in Erinnerung bleibt. Simon Geissbühler wurde bisher sehr positiv aufgenommen.
Setzt sich die Schweizer Gemeinschaft für bessere Beziehungen zwischen der Schweiz und Israel ein?
Bisher gab es keinen besonderen Bedarf dafür – die Beziehungen waren solide. Seit dem Krieg hat sich das geändert: Juden und Israelis werden in Europa, den USA und auch in der Schweiz zunehmend negativ dargestellt. Das zeigte sich selbst bei kulturellen Ereignissen wie dem ESC, wo es auffällige Unterschiede zwischen Jury- und Publikumsbewertungen gab. Wir interpretieren dies als eine gezielte Kampagne von linken und arabischen Gruppen in Europa gegen Juden – ein wiederauflebender Antisemitismus.
Die Schweizer Gemeinschaft in Israel engagiert sich mittels vieler Projekte für den kulturellen Austausch und den Dialog zwischen der Schweiz und Israel. Sie setzt sich dafür ein, orthodoxe Touristen in der Schweiz über lokale Gepflogenheiten aufzuklären, um Missverständnisse zu vermeiden. Gleichzeitig fördert sie Begegnungen zwischen jüdischen und arabischen Jugendlichen durch Musik- und Austauschprogramme, darunter das Jugendorchester des Klosters Einsiedeln und die ASO-Jugendlager in der Schweiz. Auch soziale Initiativen spielen eine wichtige Rolle, etwa die Unterstützung von Kinderheimen, die israelische und palästinensische Kinder gemeinsam betreuen. Solche positiven Projekte stehen leider oft unter Beschuss linker Schweizer Politiker.
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