Elf Tage reichten den Rebellen aus, um die 58 Jahre lange Herrschaft der Baath-Partei zu beenden und das Regime der al-Assad-Familie zu stürzen. Zur Überraschung von Bashar al-Assad und der gesamten Welt entschied sich die syrische Armee, ihre Uniformen abzulegen und ihre Stellungen aufzugeben, sodass sie den enthusiastischen Rebellen überlassen wurden.
Der Sturz des Regimes begann in Aleppo und Idlib, setzte sich in Hama fort und erreichte schliesslich Damaskus. Wie Dominosteine fielen die zentralen Städte Syriens eine nach der anderen in die Hände der Rebellen. Als Russland und der Iran bemerkten, dass die syrische Armee den Kampf verweigerte, gaben sie ihre Bemühungen, Assad zu retten, auf – ganz anders als in den frühen Phasen des Bürgerkriegs. So brach das Assad-Regime in Syrien abrupt zusammen.
Welche Folgen hat der Sturz des Assad-Regimes für die Länder der Region und für Israel? Und was kann getan werden, um die Verteidigung und Sicherheit an der syrischen Front zu stärken?
Islamistische Rebellen geben sich versöhnlich
Der Anführer von Hayat Tahrir al-Sham (HTS), Abu Mohammad al-Dscholani, erklärte seine Absicht, eine Regierung zu bilden, die von den verschiedenen Rebellengruppen in Syrien akzeptiert wird. In den letzten Tagen übermittelte er auch eine Botschaft an die Minderheiten in Syrien, darunter Kurden, Christen, Drusen und sogar Alawiten, in der er betonte, keine Gewalt gegen sie ausüben zu wollen.
Oberstleutnant a.D. Dr. Jacques Neriah, ein leitender Forscher am Jerusalem Center for Public Affairs, schrieb heute: „Nach al-Dscholanis Handlungen zu urteilen, beabsichtigt er nicht, die staatlichen Institutionen anzutasten, und er beschloss, zwei schiitische Städte zu verschonen. Das deutet auf eine Absicht hin, staatsmännischer zu agieren.“
Viele zweifeln jedoch an Dscholanis ehrlichen Absichten. Er gilt als erfahrener und gerissener Terrorist, dessen Organisation salafistisch und fundamentalistisch ist. Selbst wenn seine Absichten aufrichtig wären, stünde er vor einer äusserst komplexen Aufgabe: Der Kampf ist noch nicht beendet. In den letzten Stunden zogen sich die von Kurden angeführten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) aus der Stadt Manbij westlich des Euphrats zurück, während die von Erdogan unterstützte Freie Syrische Armee die Region einnahm.
Vergleich mit anderen Revolutionen in der muslimischen Welt
Die aktuelle Situation in Syrien sollte im Vergleich mit zwei anderen Revolutionen in der muslimischen Welt betrachtet werden: der Islamischen Revolution im Iran von 1979 und dem Arabischen Frühling in Libyen 2011.
Im Iran vereinten sich unterschiedlichste Gruppen, um den korrupten Schah Mohammad Reza Pahlavi zu stürzen. Atheistische Kommunisten und liberale Studenten arbeiteten mit Khomeini zusammen, um den Schah zu entmachten, in der Hoffnung, selbst die Macht zu übernehmen. Ähnlich haben in Syrien verschiedene Rebellengruppen zusammengearbeitet, um Assad zu stürzen. Doch wenn keine Einigung erzielt wird, könnte HTS als einzige von der Rebellion profitieren und die Macht allein übernehmen.
Ein solcher Zustand würde höchstwahrscheinlich zu einem Szenario wie in Libyen führen. Nach der Entmachtung Gaddafis versuchten verschiedene Gruppen, sich zu einigen. Als dies scheiterte, brach ein sechs Jahre andauernder Bürgerkrieg aus, und Libyen wurde de facto in zwei Staaten aufgeteilt.
Ende der iranischen Achse
Fazit: Zum jetzigen Zeitpunkt ist unklar, ob der Sturz des Assad-Regimes für Israel gut oder schlecht ist.
Ein Mitglied der iranischen Revolutionsgarde sagte heute Morgen gegenüber der New York Times, dass der Sturz Syriens „der Fall der Berliner Mauer der Widerstandsachse – Haniyeh, Nasrallah und jetzt Assad“ sei. Diese Aussage trifft ins Schwarze.
Kein Wunder, dass Mitglieder der iranischen Revolutionsgarde Syrien in den letzten Tagen verlassen haben, noch bevor Assad stürzte. HTS, eine sunnitische Organisation, verabscheut den Iran, und der Einfluss des schiitischen Staates auf Syrien wurde vollständig ausradiert. Zudem wurde al-Bukamal, der Grenzübergang zwischen Syrien und Irak, der als Hauptwaffenschmuggelroute vom Iran zur Hisbollah diente, von den anti-iranischen und pro-israelischen Kurden erobert, die nun etwa 40 % des Landes kontrollieren.
Strategische Überlegungen
Die Revolution in Syrien könnte einen lang andauernden Bürgerkrieg, ein extrem fundamentalistisches muslimisches Regime oder eine pragmatischere Regierung hervorbringen. Dieses neue Regime könnte Teile Jordaniens oder des Libanons angreifen. Es wird Auswirkungen auf Iran, Russland, Saudi-Arabien, die Türkei, den Libanon, Jordanien und andere Kräfte haben.
Die letzten elf Tage in Syrien zeigen, dass es keine voreiligen Schlüsse geben kann. In Zeiten grosser Unsicherheit gilt: Hope for the best, prepare for the worst.
Israelische Massnahmen
In Israel herrscht grosse Sorge über die Unsicherheit in Syrien. Dies zeigt sich in der schnellen Verstärkung der Grenzregion, der Eroberung des syrischen Hermon und der Bombardierung von Munitionslagern und Fabriken im Land.
Die entmilitarisierte Zone entlang der israelisch-syrischen Grenze, die im Rahmen des Truppenentflechtungsabkommens nach dem Jom-Kippur-Krieg im Jahr 1974 geschaffen wurde, wird sorgfältig überwacht. Syrische oder Hisbollah-Stellungen in dieser Zone wurden stets sofort zerstört. Israel verfolgt eine harte Linie gegen Verstösse gegen das Abkommen und stärkt seine Verteidigungsstellungen.
Israel soll laut Berichten in direktem Kontakt mit mehreren Rebellengruppen stehen, einschliesslich HTS, um sicherzustellen, dass diese sich nicht der Grenze nähern. Gleichzeitig wird eine engere Zusammenarbeit mit den Kurden angestrebt, um iranischen Einfluss fernzuhalten und islamistische Gruppen zu schwächen.
Diplomatische Optionen und kreative Lösungen
Auch auf diplomatischer Ebene gibt es Chancen: In der Nacht bewegten sich gepanzerte Fahrzeuge der libanesischen Armee in Richtung syrischer Grenze, um ein Überschwappen der Ereignisse zu verhindern. Diese Ängste bestehen auch in Jordanien und anderen arabischen Staaten, was Israel die Möglichkeit gibt, bestehende Allianzen zu festigen und neue zu schmieden.
Der Forscher Yaakov Feitelson schlug heute in einem Artikel vor, die alte Idee von Yigal Allon wieder aufzugreifen: Unterstützung für die Drusen, ihre historische Heimat in Jabal al-Druze wiederherzustellen. Dieses neue drusische Staatsgebilde würde unter israelischem Schutz stehen und Israels Souveränität über die Golanhöhen anerkennen.
Israel Shamay ist Redaktor bei Markor Rishon und Podcast-Moderator. Dieser Artikel ist zuerst bei Makor Rishon erschienen.
„Jabal al Druze“ , was? Das war ein Gebiet, daß gerade mal 15 Jahre zwischen 1921-1936 dank der Franzosen bestanden hatte und vom Golangebiet ca 50 Km entfernt ist. Solche Überlegungen müssen natürlich angestellt werden, jetzt, wo der Syrische Staat als solches faktisch nicht mehr existiert, aber dann müsste man auch die Provinz Latakia, die Kurdengebiete und Libanesische Ansprüche berücksichtigen. Und Erdogan möchte ja sowieso das Osmanische Reich wiedererrichten. Eine schwierige Aufgabe. Die knapp 500000 Drusen haben nicht solche Ansprüche wie die Kurden auf einen eigenen Staat, sondern möchten im Prinzip in Ruhe leben, in jedem Staat, der ihnen Frieden im Inneren garantieren kann.
Obwohl es im Moment vernünftig ist, die leerstehenden Militärbasen der Syrischen Armee durch Israelische Truppen zu besetzen, bevor dort irgendwelche Djihadisten oder Hisbollah-Kämpfer einrücken, ist es erklärtes Ziel von Netanyahu, diese Gebiete baldmöglichst einer freundlich gesinnten Syrischen Regierung zurückzugeben. Es wäre in beiderseitigem Interesse, die Beziehungen der beiden Regionen endlich zu normalisieren, sowohl wirtschaftlich, als auch militärisch. Hoffen wir, dass dafür genug Pragmatismus auf beiden Seiten vorhanden ist, insbesondere der Syrischen!
Interessant wäre auch zu erfahren, was die UNDOF im Golan eigentlich jetzt macht, nachdem deren Mandat auf einer Vereinbarung mit einem inzwischen untergegangenen Staat basiert. Ob das neue Syrien sich an die Vereinbarungen des alten Syrien gebunden fühlt, ist im Moment fraglich.