Der vergessene Teil der Reichspogromnacht

4
Berliner SA-Männer beim Anbringen von Plakaten, die zum Boykott jüdischer Geschäfte aufrufen. Foto Bundesarchiv, Bild 102-14468 / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5415525
Berliner SA-Männer beim Anbringen von Plakaten, die zum Boykott jüdischer Geschäfte aufrufen. Foto Bundesarchiv, Bild 102-14468 / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5415525
Lesezeit: 4 Minuten

Vor 86 Jahren ereignete sich das Kristallnacht-Pogrom. Die Bilder von brennenden Synagogen und zerstörten jüdischen Geschäften sind zum festen Bestandteil des jährlichen «Nie wieder»-Erinnerungszyklus geworden. Nur: Dass der orchestrierte «Volkszorn» der Kristallnacht auch die offene Entwaffnung der deutschen Juden einleitete, bleibt heute konsequent unerwähnt.

Am Morgen des 10. Novembers, noch ehe die letzten Synagogenbrände erloschen waren, veröffentlichte die Nazipresse eine Anordnung des Reichsführers SS, Heinrich Himmler. Darin hiess es: «Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden gelten, ist jeglicher Waffenbesitz verboten. Zuwiderhandelnde werden in Konzentrationslager überführt und auf die Dauer von 20 Jahren in Schutzhaft genommen.»

Nicht nur der Inhalt, sondern vor allem auch der Zeitpunkt dieser Anordnung sollte jeden stutzig machen, der die Geschichte Nazideutschlands wirklich verstehen will. Wieso warteten die Nazis nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze noch geschlagene drei Jahre, bis sie die Juden vom Waffenbesitz ausschlossen?

Komfort und Reputationsrisiko

Dafür, dass das antijüdische Waffenverbot erst im Rahmen der Reichspogromnacht kam, gibt es zwei Gründe.

Zum einen lag es daran, dass die Nazis ihre Unrechtsherrschaft sichern konnten, ohne ihren Opfern die bewaffnete Selbstverteidigung formal zu verbieten. Möglich war das aufgrund des Weimarer Waffengesetzes. Bereits bevor die Nazis an die Macht kamen, war die private Waffe in Deutschland ein Privileg. Waffenbesitzer hatten sich lückenlos zu registrieren. Und sowohl der Besitz wie auch das Tragen von Waffen war an Gummiparagraphen wie «charakterliche Eignung» geknüpft. Diese Regelungen erwiesen sich als unschätzbares Geschenk für die Nazis.

Alles, was Hitlers Schergen nach der Machtübernahme tun mussten, war, die Behörden in internen Schreiben anzuweisen, welche Personen und Personengruppen fortan a priori als «charakterlich unzuverlässig» einzustufen waren. Aufgrund dieses «Komforts» gab es für die Nazis lange keine Notwendigkeit für explizite (antijüdische) Verbote. Sie vermochten auch so sicherzustellen, dass die Einschüchterungen und die Gewalt, die auf Deutschlands Strassen bald Alltag wurden, nicht zu nennenswerter Gegenwehr führten.

Der zweite Grund lag im immensen Reputationsrisiko, das mit einem expliziten antijüdischen Verbot einherging. Im krassen Gegensatz zu heute waren damals Sätze wie «Das Waffenmonopol liegt beim Staat» oder «Bewaffnete Selbstverteidigung ist für das Opfer gefährlicher als für den Täter» höchstens in humoristischen Kontexten denkbar. Dass die Waffe das beste Instrument zum Schutz vor vorsätzlicher Gewalt ist, war sowohl in Deutschland wie auch im Ausland unbestritten.

Vor diesem Hintergrund befürchteten die Nazis zu Recht, dass ein formaler Ausschluss der Juden vom Waffenbesitz als das aufgefasst würde, was er war: als Fanal zur totalen, anti-zivilisatorischen Entrechtung der Juden.

Durch die Kristallnacht zur Totalentwaffnung

Für die schon vor der Kristallnacht geplante Expropriation und Vertreibung der Juden wäre den Nazis ein explizites antijüdisches Waffenverbot sehr dienlich gewesen. Doch aus PR-Gründen entschieden sie sich immer wieder dagegen. Noch im Oktober 1938 führten sie eine Aktion zur Entwaffnung der Berliner Juden im Geheimen durch.

Erst am 7. November änderte sie ihre Strategie. Als der «Mordjude» Herschel Grynszpan in Paris auf den Nazi-Diplomaten Ernst vom Rath schoss, sahen Hitlers Schergen die Gelegenheit gekommen. Am 9. November berichtete die Nazipresse prominent über die bis dahin geheim gehaltene Berliner Aktion. Tags darauf kam Himmlers Anordnung.

Bildschirmfoto 2024 11 08 um 13.43.30
Kurzbericht in der NZZ vom 13. November 1938

Bereits am 13. November war in der NZZ über «zahlreiche Verhaftungen» vor allem von «angesehenen Persönlichkeiten der Judenschaft» zu lesen. «Der Reichspropagandaminister stellte in seinem Presseempfang die Verhaftungen in Abrede; auf eine spätere Anfrage wurde jedoch mitgeteilt, es handle sich bei den Verhaftungen um Massnahmen im Zusammenhang mit dem Erlass Himmlers, dass Juden keine Waffen besitzen dürfen.»

Die Vergangenheit ist nicht Geschmackssache

Die Kristallnacht bezeugt nicht nur, dass die Nazis die Juden entwaffneten, bevor sie sie ermordeten. Sie bezeugt auch, wie bemüht das Hitlerregime war, diese Entwaffnung unter dem Deckel zu behalten. Und diese Bemühungen lassen sich nur vor dem Hintergrund der eigentlich völlig banalen Tatsache erklären, dass nichts systematische Einschüchterung und Gewalt so sehr erschwert wie bewaffnete Opfer. 

Die Vergangenheit ist nicht Geschmackssache. Dass sich heute viele das Gegenteil wünschen, ändert nichts daran, dass die Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs antisemitisch motiviert war. Für das Waffengesetz gilt das Gleiche. Dass sich heute viele das Gegenteil wünschen, ändert nichts daran, dass Gummiparagraphen in Bezug auf Waffenbesitz und Waffentragen nicht Gewalttäter vor Probleme stellen, sondern Gewaltopfer.

3e5c76d21879a854209a2298bcbdb765?s=120&r=g

Über Lukas Joos

Lukas Joos studierte Philosophie und Osteuropäische Geschichte. Er ist selbstständiger Berater im Bereich strategische Kommunikation.

Alle Artikel

4 Kommentare

  1. Unterschriften sammeln für ein Bürgerbegehren hatte zur Folge, daß mir im Jahr 2016 Jagdschein und Waffenbesitzkarte entzogen wurde.

    Bei dem Bürgerbegehren ging es darum, die Münchner Bürger darüber aufzuklären, daß im Zentrum Münchens das ( sunitisch – wahabitische) „Zentrum für Islam Europa“ gebaut werden sollte. Das Vorhaben war bereits Beschlossen und genehmigt. Die Münchner wußten nichts davon.

  2. @Markus Wenninger
    „Alle einschlägigen Untersuchungen konstatieren einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Menge der in einer Gesellschaft vorhandenen Waffen und der Zahl von Verbrechen mit Anwendung solcher Waffen.“
    Die Statistiken für die USA und Kanada sprechen eine andere Sprache. Obwohl Kanada mehr Waffen pro Einwohner hat als die USA, ist die Inzidenz der Waffentoten pro 100.000 in Kanada unter 1, in den USA 15 (hier mehr als die Hälfte Selbsttötungen). Das lässt sich mit Waffen nicht erklären.

    Waffen töten keine Menschen. Menschen töten Menschen.

    Ich bin zwar nicht generell der Meinung, dass das Einzige, was einen schlechten Menschen mit einer Waffe stoppen kann ein guter Mensch mit einer Waffe ist (NRA), aber wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger vor Menschen zu schützen, die aus Allem eine Waffe machen und diese hemmungslos einsetzen, macht er sich mitschuldig an deren Tod, wenn er den Bürgern verbietet, sich selbst zu schützen.

  3. Wirklich nachvollziehbar ist die Argumentation von Lukas Joos nicht. Alle einschlägigen Untersuchungen konstatieren einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Menge der in einer Gesellschaft vorhandenen Waffen und der Zahl von Verbrechen mit Anwendung solcher Waffen.

  4. „…dass nichts systematische Einschüchterung und Gewalt so sehr erschwert wie bewaffnete Opfer.“
    Die Alternative zum persönlichen Schutz durch Waffen in Bürgerhand ist der Schutz der Bürger durch den Staat. Dafür zuständig ist die Polizei. Wenn diese aber immer wieder offen ihre Handlungsunfähigkeit einräumt, sei es aus Personalmangel, sei es durch praxisferne Gesetze und Dienstanweisungen, welche ihr ihre Arbeit erschweren (Verbot von „racial profilinng“), muss der Staat es dem Bürger erlauben, sich selbst zu schützen. Als Beispiel genügt ein Blick nach Israel. Bis zum 9. Oktober 2023 war es für den gewöhnlichen Israeli fast unmöglich, eine Waffe zur Selbstverteidigung zu besitzen, von Ausnahmen in Gebieten abgesehen, in welchen der Staat von sich aus einräumte, die Bürger nicht ausreichend schützen zu können, wie in sog. „Siedlungen“. Als Reaktion auf das Versagen der Sicherheitskräfte und der Armee beim Hamas-Pogrom wurden die Waffengesetze sehr schnell und umfassend gelockert, was zu einem exorbitanten Anstieg von Waffenkäufen in ganz Israel führte. Seitdem haben Israelische Zivilisten so manchen Terroranschlag verhindert oder zumindest die Zahl der Opfer auf ein Minimum reduziert. Statt dutzenden Toten bei Islamistischen Anschlägen gab es nur 2-3 Opfer pro Anschlag, oft genug die Zivilisten selbst, die sich den Mördern entgegengestellt haben. Auf der anderen Seite wurde nicht davon berichtet, dass sich dadurch die Anzahl der Schusswaffendelikte durch Besitzer von legal gehaltenen Waffen erhöht hätte.
    Legal gehaltene Schusswaffen in privater Hand erhöhen die Sicherheit für alle Bürger, da die Verbrecher nun mit Gegenwehr rechnen müssen und damit die Zahl der Gewaltdelikte insgesamt sinkt.
    Die Deutsche Innenministerin Faeser (SPD) und der (designierte) Justizminister Wissing (bis vor kurzem FDP) sollten auf die GdP hören und daraus die richtigen Schlüsse ziehen: Erleichterung des Waffenbesitzes für unbescholtene Bürger. Der Gesetzesentwurf von Frau Faeser („Messerverbotszonen“) gehört ob seiner Realitätsferne umgehend in die Mülltonne.

    Generelle Waffenverbote treffen nur die gesetzestreuen Bürger und erleichtern den Verbrechern ihre dreckige „Arbeit“. Der Deutsche Bürger muss wehrhaft sein, egal ob er Jude ist oder nicht, wenn der Staat seinen Schutz nicht mehr garantieren kann. Das dies heute der Fall ist, belegt neben den öffentlich einsehbaren Einlassungen von hochrangigen Polizeibeamten auch die Kriminalitätsstatistik. Man muss sie nur lesen können.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.