Am 7. Oktober 2023 hat die Hamas die Brücken hinter sich abgebrochen. Was ihr Massaker bedeutet, kann einschätzen, wer 80 Jahre zurückblickt, in die Zeit des Völkermords, den Adolf Hitler befahl.
von Stefan Stirnemann
Weil Politiker und Beamte, die für Israels Sicherheit verantwortlich waren, versagten, konnten ausgebildete Mordschützen der palästinensischen Terrororganisation Hamas und palästinensische Zivilisten am 7. Oktober 2023 auf dem Boden des Staates Israel ein tausendfaches Massaker verüben und sich austoben: im Morden, Foltern, Vergewaltigen, Plündern, Zerstören und Verschleppen.
Am 24. Oktober 2023 wies der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, darauf hin, dass er die terroristischen Handlungen der Hamas unzweideutig verurteilt habe – so lauten die glatten und geölten Worte der Diplomatie –, und kam dann zu seinem wahrscheinlich eigentlichen Anliegen: Es sei wichtig, ebenso zu verstehen, dass die Angriffe der Hamas nicht in einem Vakuum erfolgt seien; das palästinensische Volk sei 56 Jahre einer erstickenden Besatzung unterworfen gewesen.
Die Erkenntnis, dass nichts in einem Vakuum erfolgt, verdient nicht gerade den Nobelpreis für scharfsinnige Einfälle; jedes Ereignis steht in einem Zusammenhang, aber auch jede Aussage. Der Zusammenhang, in dem der Satz des Generalsekretärs steht, ist das alte Credo der Antisemiten, nämlich dass die Juden an allem schuld sind, folglich auch daran, dass man sie tötet. Um zu wirken, braucht dieser Satz allerdings ein Vakuum, einen Raum, der frei ist von historischem Wissen, menschlicher Einfühlung und politischem Urteilsvermögen. Wer dieses Vakuum verlässt, versteht, warum Israel nun mit solcher Gewalt handelt, ohne dass er es in allem gutheissen müsste.
Vor achtzig Jahren
Der 7. Oktober 2023 ist ein Jahrestag. Am 7. Oktober 1943 empfing der «Führer» im Hauptquartier Wolfsschanze seine Reichs- und Gauleiter, so hiessen die Bundesminister und Ministerpräsidenten des nationalsozialistischen Staates. Das Deutsche Nachrichtenbüro (DNB) fasste Adolf Hitlers Worte zusammen: «Das ganze deutsche Volk wisse, dass es um Sein oder Nichtsein gehe, die Brücken seien hinter ihm abgebrochen, ihm bleibe nur der Weg nach vorn.» Bei diesem Treffen gratulierte gemäss DNB Hitler seinem Mitarbeiter Heinrich Himmler, dem Befehlshaber der SS, der Schutzstaffel, zum Geburtstag; Himmler wurde an jenem 7. Oktober 43 Jahre alt. Was meinte der «Führer» mit den abgebrochenen Brücken? Er meinte den Völkermord an den Juden Europas. Am Vortag hatte Heinrich Himmler der Führungselite in Posen seinerseits eine Rede gehalten und dabei in folgenden Sätzen offen vom Mord an den Juden gesprochen: «Der Satz Die Juden müssen ausgerottet werden mit seinen wenigen Worten, meine Herren, ist leicht ausgesprochen. Für den, der durchführen muss, was er fordert, ist es das Allerhärteste und Schwerste, was es gibt. (…) Es trat an uns die Frage heran: Wie ist es mit den Frauen und Kindern? (…) Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen.» Dass Himmlers Hörer das nicht schon wussten, ist undenkbar, aber zweifellos wollte Hitler, dass der nach ihm oberste Mörder es in dieser Gemeinschaft offen aussprach, so dass jedem klar war, er sei unwiderruflich Komplize und es gebe, auch in militärisch aussichtsloser Lage, nur den Kampf und keine Aussicht auf Verhandlungen. Der Rüstungsminister Albert Speer schreibt in seinen Erinnerungen: «Am Abend nach dieser Tagung mussten viele der Gauleiter infolge ihrer alkoholischen Exzesse Hilfe in Anspruch nehmen, um zum Sonderzug zu kommen, der sie in der Nacht zum Hauptquartier beförderte.» Umsonst bat Speer seinen «Führer», «einige temperenzlerische Worte an seine politischen Mitarbeiter zu richten». Gitta Sereny, Verfasserin einer Biografie Speers, meint dazu, wahrscheinlich mit Recht, Himmlers Rede habe den politischen Führern allen Grund gegeben, ihre Ängste in Alkohol zu ertränken. Hätten sie gewusst, wie nachsichtig die deutsche Gesellschaft nach verlorenem Krieg mit den Mördern umgehen würde, sie hätten erst recht gesoffen, aber vor Erleichterung. Die Bürger des «Dritten Reichs» folgten dem Willen ihres «Führers» mit Inbrunst und Freude, und sie kamen dabei auf ihre Rechnung: sie durften ihre Opfer ausplündern. Der Journalist Erich Kuby überliefert aus seiner Zeit in der Wehrmacht einen sprechenden Namen für das Morden. Ein Obergefreiter sagte zu ihm, am folgenden Tag sei wieder Schlachtefest. Es war geplant, etwa 180 Juden zu erschiessen, «die ganzen Familien!» In der Schweiz heisst das Schlachtefest «Metzgete»: Es wird geschlachtet, gesotten und gebraten und aufgetischt, man isst und trinkt und feiert nach Herzenslust. Die Mörder musste man nicht unter Strafandrohung zum Morden zwingen; es reichte, die Hemmungen und Gesetze aus dem Weg zu räumen, mit welchen eine zivilisierte Gesellschaft Gewalt und Mord einzudämmen versucht.
Bilderbogen der Sonderaktionen
Simon Wiesenthal hat sich einen Namen als Verfolger jener Täter gemacht; er war, da Jude, selbst KZ-Häftling der Deutschen gewesen. Als ihn ein SS-Rottenführer fragte, was er, wenn er entkommen könnte, in New York von den Konzentrationslagern erzählen würde, antwortete er, er würde die Wahrheit erzählen. Der offenbar friedlich gestimmte und gar höfliche SS-Mann sagte dazu: «Sie würden Ihnen nicht glauben, würden Sie für wahnsinnig halten, vielleicht sogar in eine Irrenanstalt stecken. Wie kann auch nur ein einziger Mensch diese unwahrscheinlich schrecklichen Dinge glauben – wenn er sie nicht selbst erlebt hat?»
Schauen wir auf eine Reihe dieser unglaubhaften Dinge. Der Dichter und Widerstandskämpfer Jizchak Katzenelson, der in Auschwitz ermordet wurde, hat der Welt ein langes Gedicht hinterlassen, «Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk, den Grossen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk»; Wolf Biermann hat ihn aus dem Jiddischen übersetzt. Im dritten Gesang, der den Titel «Ihr Tage meines Leids» trägt, wirft sich der Dichter vor, dass er zu schwach war einzugreifen, als die Menschen verschleppt wurden:
«Stand wie gelähmt, als meine Leut: Greis, junge Frau mit Kind im Arm
Auf Karrn wie Kleinholz flogen und wie Steine in` Waggon, dazu
Noch frech beschimpft, verspottet und geprügelt ohn` Erbarm.»
In harten, dichterischen, deutschen Worten, die Wolf Biermann seinem ermordeten Kollegen leiht, lesen wir vom Rabbiner Jossele, der vor einem begeisterten Publikum misshandelt und gedemütigt wurde. Ein Offizier verlangte, dass der Synagogendiener seinem Rabbi in den Mund spucke. Schliesslich spuckte der Deutsche selber; den Diener traf ein Schuss in den Fuss:
«Der Deutsche rotzt dem Rabbi in den Rachen und schreit: ‹Schluck! und mogel nicht!»
Abraham Sutzkever, auch er Dichter und Widerstandskämpfer, schreibt in seinem Bericht über das Ghetto von Wilna von sogenannten Chapunes, Greifern, welche versteckte Juden aufspürten, und der Gestapo übergaben: «Junge Mädchen behielt man zurück, um sie dort zu vergewaltigen. Danach versuchte man ihnen einzureden, man werde sie leben lassen, wenn sie zeigen würden, wo sich Juden verstecken.»
Erna Petri, Frau eines SS-Landwirts, der im Osten einen Gutsbetrieb leitete, griff sechs jüdische Kinder auf, die, wie sie später im Verhör vermutete, aus einem Eisenbahnwagen unterwegs ins Vernichtungslager entkommen waren. Sie führte die Kinder in einen Wald und tötete sie der Reihe nach mit einer Pistole; nach den ersten zwei Schüssen begannen die übrigen vier Kinder zu wimmern; sie waren so schwach, dass sie nicht fliehen konnten. Heinrich Himmler liess dem Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes («Lieber Hofmann!») aus einer «Sonderaktion» unter anderem «970 Stck. Kinderkleidchen» schicken: «Verteilen Sie diese Dinge in erster Linie an unsere Kriegerwitwen, an die Eltern unserer Gefallenen und an kinderreiche Frauen von unseren SS-Kameraden, die im Felde sind.»
Für Sonderaktionen gab es Sonderzulagen, wie der SS-Arzt Prof. Dr. Johann Paul Kremer in seinem Auschwitzer Tagebuch festhielt: «Wegen der dabei abfallenden Sonderverpflegung, bestehend aus einem fünftel Liter Schnaps, 5 Zigaretten, 100 g Wurst und Brot, drängen sich die Männer zu solchen Aktionen.»
Severina Schmaglewskaja, die Auschwitz überlebte und heute als Autorin bekannt ist, bezeugte in Nürnberg, beim Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher: «Zu der Zeit, als die meisten Juden in Gaskammern vernichtet wurden, wurde ein Befehl erlassen, die Kinder in die Öfen des Krematoriums oder in die Gräben um das Krematorium herum zu werfen, ohne sie vorher zu vergasen. Das Geschrei dieser Kinder konnte man im ganzen Lager hören.» In den Gräben starben die Kinder im siedendheissen Leichenfett, das sich dort sammelte. Die Zahl der ermordeten Kinder liess sich, so die Zeugin, an den aufgestapelten Kinderwagen abschätzen: «Manchmal waren es Hunderte, manchmal Tausende von Kinderwagen.» Hermann Langbein, der Auschwitz überlebte, weil er als Schreiber des SS-Standortarztes arbeiten konnte, berichtet vom Lagerkommandanten Höss: «Er hat sich Güter aus dem Besitz der Deportierten in so grossem Massstab angeeignet, dass zwei Eisenbahnwaggons benötigt wurden, als Höss mit seiner Familie Auschwitz verliess.» Ausgewählte Opfer wurden vom deutschen Staat als «Austauschjuden» verwendet, gegen Devisen oder Gefangene.
Wie war so etwas im christlichen Abendland möglich? In Nürnberg sagte einer der Mörder als Zeuge aus, der SS-General von dem Bach-Zelewski: «Wenn man jahrelang predigt, jahrzehntelang predigt, dass die slawische Rasse eine Unterrasse ist, dass die Juden überhaupt keine Menschen sind, dann muss es zu einer solchen Explosion kommen.» Diese Predigt ging besonders eindringlich an die Kinder. In einem Jugendbuch mit dem humorvollen Titel Der Pudelmopsdackelpinscher stehen auf jeder Seite Sätze wie dieser: «Bandwurm und Jude sind Schmarotzer der schlimmsten Art. Wollen wir uns ihrer entledigen, wollen wir wieder gesund und stark werden, dann hilft nur eines: ihre Ausrottung.» Der Nürnberger Hauptankläger für das Vereinigte Königreich, Sir Hartley Shawcross, sagte über Baldur von Schirach, der die Hitlerjugend und die Jugenderziehung verantwortete: «Dieses Verderben von Kindern ist vielleicht das gemeinste von allen Verbrechen.»
«Die Juden schiessen ja!»
Die Hamas folgt, wie Bilder und Berichte zeigen, dem Muster der europäischen Schlachtefeste. Die Bilder stammen zum Teil von den stolzen Mördern selbst. Der 7. Oktober 2023 zeigt, was der Ruf Palestine will be free! für die Hamas bedeutet. In den langen Jahren, in denen sie im Gazastreifen die Verantwortung trug, hat sie nicht etwa für das Wohl und die Rechte der palästinensischen Gesellschaft gesorgt; sie hat unterirdische Kampfanlagen gegraben, Waffen gehortet und die Menschen von früher Kindheit an zum Judenhass erzogen. Ihr Ziel war ein vernichtender Überfall, vielleicht mit der wahnhaften Erwartung, Chaos und Krieg zu säen, in dem Israel untergehen müsse. Mit dem Hizbullah und Iran hat die Hamas Brüder im Totschlag gefunden. Gefunden hat sie zudem weltweit Menschen, gerade auch akademisch gebildete, die brüllend und schreibend die Mörder zu Opfern machen und den Opfern das Recht absprechen, sich zu wehren. Sie stellen sich neben Adolf Hitler und Yahya Sinwar, den Chef der Hamas, um Heinrich Himmler zum Geburtstag zu gratulieren.
Der Dichter Katzenelson erzählt, wie Juden, welche Waffen beschaffen konnten und sich wehrten, zwei deutsche Mörder erschossen. Das, was einer der Mörder rief, zitiert Katzenelson in der Sprache der Herrenmenschen: «Die Juden schiessen ja!» Der Staat Israel ist gegründet worden, damit die kleine jüdische Gemeinschaft einen Platz hat, wo sie vor Verfolgung und Mordanschlägen sicher ist. Zu verlangen, dass Israel diesen Angriff auf seine Lebensmitte hinnimmt und darauf hofft, dass er sich nicht wiederholt, ist mehr als blauäugig.
Wie ernst ist es den Anführern und Verbündeten der Hamas mit ihrem Kampf ohne jegliche Schranke? Die meisten politischen Grossmörder stellen ihren Mordplan unter den Vorbehalt, dass sie selber ein angenehmes Leben haben und am Leben bleiben. Heinrich Himmler, das Geburtstagskind des 7. Oktobers, verhandelte kurz vor der endgültigen Niederlage mit einem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses und war, um seine Haut zu retten, bereit, gefangengehaltene Juden freizugeben. Den jüdischen Untermenschen begrüsste er so: «Willkommen, Herr Masur, in Deutschland, es ist Zeit, dass ihr, Juden, und wir, Nationalsozialisten, die Streitaxt begraben.» Die Hamas hat die Brücken hinter sich abgebrochen; mit ihr gibt es Verhandlungen nur über die Rückkehr der Geiseln und die Kapitulation. Echte Politik besteht wesentlich im Mässigen und Vermitteln; die Politiker der Welt hätten die Aufgabe, Israels Lebensrecht zu schützen und den Palästinensern dabei zu helfen, endlich eine verantwortungsvolle Führung zu finden.