Der Schweizer Dialog mit der Hamas: Risiko und Profit

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Der Schweizer EDA-Vertreter Roland Steininger erhielt im November 2017 von politischen Leiter der Hamas, Ismail Haniyeh als Geschenk ein Gemälde mit dem sog. Felsendom in Jerusalem. Foto Hamas
Der Schweizer EDA-Vertreter Roland Steininger erhielt im November 2017 von politischen Leiter der Hamas, Ismail Haniyeh als Geschenk ein Gemälde mit dem sog. Felsendom in Jerusalem. Foto Hamas
Lesezeit: 8 Minuten

Das neue Buch von Jean-Daniel Ruch über seine diplomatische Karriere (siehe hier), die in einem Eklat endete, enthält brisante Informationen zu den Schweizer Beziehungen zur Hamas. Als Sonderbeauftragter für den Nahen Osten trug er von 2008 bis 2012 die Verantwortung. Neben dem Hamas-Aussenminister Mahmud az-Zahar waren die langjährigen Hamas-Führer Ismail Haniyya und vor allem Khaled Meshal seine Hauptgesprächspartner. Dank dem Hamas-Dialog gelang es der Schweiz, internationale Proteste nach dem Minarettverbot zu verhindern. Der Preis dafür waren Spannungen mit den Israelis und den Amerikanern. Nach dem 7. Oktober wollte plötzlich niemand mehr von diesem umstrittenen Kapitel der Schweizer Diplomatie wissen.

Der Hamas-Dialog ist eng verbunden mit der Amtszeit von SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (2003-2011). Ihre Wahl fiel mit dem Höhepunkt des amerikanischen Krieges gegen den Terror zusammen. Statt Konfrontation favorisierte die neue Aussenministerin das Gespräch – und startete deshalb ein Dialogprogramm mit islamistischen Gruppierungen. Damit wollte die SP-Politikerin einen Kontrapunkt zum von Islamisten beschworenen Kampf der Zivilisationen setzen.

Die Verantwortung dafür übernahm Thomas Greminger, der damalige Leiter der politischen Abteilung IV im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und heutige Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP).  So lancierte das EDA die Montreux-Initiative, die islamischen Wohltätigkeitsorganisationen half, die aus Sicht des EDAs von den Amerikanern und Israelis ohne Grund der Terrorunterstützung verdächtigt wurden.

Die Schweiz schert aus

Eine der gefährlichsten islamistischen Organisationen ist die Hamas. Seit den 1990ern ermordete sie Hunderte israelische Zivilisten bei Selbstmordattentaten, um eine Annäherung zwischen den beiden Völkern zu verhindern. Davon liess man sich im EDA nicht beirren und startete 2004 einen Dialog mit der Hamas. 

Zwei Jahre später, 2006, errang die Hamas den Sieg bei den Wahlen. Es waren die ersten und bisher einzigen freien Parlamentswahlen in den selbst verwalteten palästinensischen Gebieten. Ein Super-Gau für den Friedensprozess, aber ein Triumph für die Schweizer Diplomatie, die nun einen direkten Zugang zur Macht genoss. Weil die Hamas eine Fortführung des Friedensprozesses sowie eine Einhaltung der mit der PLO geschlossenen Verträge ablehnte, wurde sie von den USA und sämtlichen westlichen Staaten sanktioniert – nur Bundesrätin Micheline Calmy-Rey machte nicht mit.

Kurzer Waffenstillstand

Statt sich dem Boykott der Hamas anzuschliessen, verstärkte das EDA den Dialog mit der Hamas. Es beauftragte Didier Pfirter, den Schweizer Sonderbotschafter für besondere Aufgaben, mit dem Hamas-Dialog. Dieser hatte sein Geschick in den Verhandlungen um die israelische Vertretung des Roten Kreuzes bewiesen. 2006 anerkannte das IKRK dank Schweizer Hilfe dessen Emblem, den roten Davidstern, als drittes Kennzeichen neben Kreuz und Halbmond.

Der Hamas-Dialog fand nach Auskunft des EDA nicht nur im Nahen Osten statt, sondern auch in der Schweiz: «Hamas-Vertreter reisten ab 2006 im Rahmen von Prozessen in die Schweiz, die – teilweise mit Unterstützung der Schweiz – von Dritten organisiert wurden,» schreibt das EDA auf Anfrage. Didier Pfirter bestätigt im persönlichen Gespräch diese Treffen, die jeweils in Bergorten stattfanden. Unter den Teilnehmern waren nicht nur Vertreter von Hamas und Fatah, sondern auch teils hochranginge Vertreter Israels. Diese waren gemäss Pfirter anfänglich skeptisch gegenüber Gesprächen mit Hamas-Vertretern, die sie als Terroristen sahen. Doch sei es ihm gelungen, diese Skepsis zu überwinden, so Pfirter.

Pfirters Hamas-Kontaktmann in Gaza war Achmed Youssef, der persönliche Berater von Ismail Haniyya. Kernstück der Gespräche war die Idee einer sogenannten «Hudna» – nach islamischem Recht (Scharia) eine temporäre Waffenruhe, ohne dass damit ein dauerhafter Frieden in Aussicht gestellt wird. Der Schweizer Diplomat hatte jedoch eine längere Waffenruhe von 20 Jahren vor Augen. Im Gegenzug sollten die Israelis ihren Siedlungsbau einfrieren. Nachdem der Plan jedoch an die Öffentlichkeit
gelangt war, wurde er nicht weiterverfolgt.

Dennoch erklärte die Hamas im Herbst 2006 eine «Hudna» mit Israel. Doch diese währte nur kurz: Nach sechs Monaten brach die Hamas die «Hudna» im Mai 2007 und vertrieb einen Monat später die Fatah aus dem Gazastreifen. Der Gazastreifen war seit diesem kurzen Bürgerkrieg fest in der Hand der Hamas – bis 2023. Trotz dieses Rückschlags hielt die Schweiz an ihrem Hamas-Dialog fest.

Von der Hamas beeindruckt

2008 übernahm der Jurassier Jean-Daniel Ruch als neuer Sonderbeauftragter für den Nahen Osten den Hamas-Dialog von Didier Pfirter. Er zeigte sich von seinen neuen Gesprächspartnern beeindruckt. Die Islamisten erschienen ihm nicht nur als «bessere Strategen als ihre säkularen und pro-westlichen Pendants», sondern auch als besser organisiert, militärisch fähiger und auch weniger der Korruption verdächtigt.

In diesen Zeilen wirkt Jean-Daniel Ruch nicht wie ein nüchterner Beobachter, sondern wie jemand, der der Hamas zu tief in die Augen geblickt hat. Während Ruch in seinen Memoiren keine Scheu zeigt, Juden, wie etwa die Siedler, als «Extremisten» zu bezeichnen, fehlen ähnliche Beschreibungen bei seinen Ausführungen zu islamistischen Terroristen.

Der Schweizer Diplomat und Buchautor jean-Daniel Ruch war eine zentrale Figur im Dialog mit der Hamas
Der Schweizer Diplomat und Buchautor jean-Daniel Ruch war eine zentrale Figur im Dialog mit der Hamas. Quelle: VBS

Ein Treffen bei Einsiedeln

Im gleichen Jahr wie Ruchs Stellenantritt eskalierte die Hamas ihren Raketenbeschuss von Israel. Dies führte im Dezember 2008 zum Ausbruch des ersten Krieges zwischen der Hamas und Israel. Das EDA sah jetzt offenbar einen hohen Bedarf nach seinen Diensten. Im Juni 2009 lud es hochkarätige Mitglieder der Hamas, unter ihnen Hamas-Aussenminister Mahmoud az-Zahar und Hamas-Diplomat Osama Hamdan, nach Feusisberg im Kanton Schwyz zu einem Geheimtreffen ein.

Der bekannte Diplomat Tim Guldimann übernahm die Leitung über die Gespräche, die in einem örtlichen Luxushotel stattfanden. Ebenfalls anwesend waren IRA-Vertreter, die den Hamas-Leuten den irischen Weg zum Frieden erläuterten, jedoch wenig Eindruck machten. Während der Gespräche besuchte az-Zahar auch das Kloster Einsiedeln und liess sich mit dem Abt fotografieren.

Als wenig später Gerüchte über den Besuch der Hamas in der Schweiz in den Medien die Runde machten, wollte Aussenministerin Calmy-Rey keine Details bekannt geben. Man liess jedoch verlauten, die «Hamas sei ein wichtiger Akteur im Nahost-Konflikt, den man bei ernsthaften Bemühungen um eine Lösung nicht ignorieren dürfe.» Nicht überraschend sorgte das Feusisberg-Treffen für weitere Verstimmung zwischen der Schweiz und Israel.

Neue Hamas-Charta

Aus Sicht der Schweizer war das Feusisberg-Treffen jedoch kein Misserfolg. Als Resultat der Gespräche soll Mahmud az-Zahar den Schweizern versprochen haben, die Hamas-Charta abzuändern. Die neue Hamas-Charta von 2017 betrachten die Schweizer Diplomaten deshalb als Frucht ihres Dialogs mit der Hamas und eine grosse Verbesserung.

Im Gegensatz zum EDA sahen Israel und die meisten westlichen Staaten die neue Hamas-Charta jedoch nicht als wesentliche Verbesserung, sondern als Kosmetik, zumal die Hamas-Führer in ihren Statements, ob sie nun die Charta von 1988 ersetze oder ergänze, uneindeutig blieben. Diese Nicht-Anerkennung ihrer Bemühungen verstärkte im EDA die sowieso schon vorhandene Grundstimmung, die die Schuld am Konflikt eher bei Israel als bei den palästinensischen Terrororganisationen suchte. «Aber angesichts der israelischen Sturheit und des Mitläufertums der Amerikaner und Europäer gab es keine Chance auf Fortschritte.»

Erwähnenswert ist, dass diese Charta von 2017 weiterhin religiös geprägt ist, Israel nicht anerkennt und den bewaffneten Kampf gegen Israel fordert, jedoch im Gegensatz zur Charta von 1988 von Zionisten statt von Juden spricht und eine Gründung eines palästinensischen Staates innerhalb der Grenzen von 1967 anvisiert, bevor das ganze israelische Territorium erobert werden soll, «vom Fluss bis zum Meer» (siehe hier).

Minarettverbot – Der Dialog macht sich bezahlt

Die Nützlichkeit des Hamas Dialogs zeigte sich bei der Minarettinitiative. Die Schweizer Regierung wollte schwere Proteste in der islamischen Welt, analog zu den Protesten gegen dänische Mohamed-Karikaturen drei Jahre zuvor, unbedingt verhindern. Man sorgte sich vor allem um den möglichen Schaden für die Schweizer Wirtschaft.

Schon im Vorfeld der Abstimmung erarbeitete man deshalb eine Kommunikationsstrategie für die islamische Welt und kontaktierte islamische Institutionen. Die Botschaft: Die Schweizer Regierung und das Parlament stehen nicht hinter der Initiative. Man ging jedoch davon aus, dass die Initiative haushoch abgelehnt würde. Dementsprechend überrascht war man, als fast 60 Prozent der Stimmbevölkerung am 29. November 2009 Ja zur Initiative sagten.

Die weltweit agierende, exzellent organisierte Muslimbruderschaft, der die Hamas angehört, hätte jederzeit internationale Ausschreitungen gegen die Schweiz organisieren können. Dem galt es, zuvorzukommen. Zu diesem Zweck kontaktierte Jean-Daniel Ruch Achmed Youssef, der schon Pfirter als Gesprächspartner gedient hatte. Youssef war exzellent mit den Muslimbrüdern vernetzt und schlug Ruch vor, der Schweiz dabei zu helfen, die Reaktionen in der islamischen Welt abzumildern. Tatsächlich kam es anschliessend zu keinen grösseren Protesten in der islamischen Welt.

Welchen Preis zahlte die Schweiz für diese «Hilfe»? Wir wissen es (noch) nicht. Ruch stellte jedoch zufrieden fest: «Unser Engagement für die Hamas und die Muslimbruderschaft war also gut investiertes Geld, auch wenn kaum zu Frieden und Demokratie im Nahen Osten beigetragen hat.»

Plakat
Das EDA fürchtete islamistische Proteste infolge des Minarettverbots. Quelle: SVP

Es geht weiter

Ende 2011 trat Micheline Calmy-Rey zurück. Ihre Nachfolge übernahm FDP-Bundesrat Didier Burkhalter. Nach Aussage von Ruch wollte der neue Aussenminister den Dialog mit der Hamas zunächst beenden. Doch die Israelis machten plötzlich eine Wende und regten die Schweizer an, den Dialog fortzuführen. Unabhängig lässt sich das zurzeit nicht überprüfen, doch es ist auch die Position des EDAs. Auf Nachfrage antwortet das EDA: «Die Politik des inklusiven Kontakts und der guten Dienste der Schweiz in diesem Kontext war bei den internationalen Schlüsselakteuren wie den USA und der EU, aber auch Israel bekannt und geschätzt. Dieser Kanal wurde regelmässig genutzt, insbesondere während Krisen.»

Ruchs Mandat als Sonderbeauftragter für den Nahen Osten endet derweil 2012 und er geht als Botschafter nach Belgrad. Vier Jahre später kehrt er in den Nahen Osten zurück als Schweizer Botschafter in Israel und bleibt dort bis 2021.  Mitte September 2023 wird Jean-Daniel Ruch zum neuen Staatssekretär für Sicherheitspolitik im VBS berufen. Einen knappen Monat später greift die Hamas Israel an und verübt das grösste anti-jüdische Massaker seit dem Holocaust. Der Bundesrat entscheidet sich, die Hamas zu verbieten. Vom Schweizer Hamas-Dialog will man jetzt nichts mehr wissen. Jean-Daniel Ruch, der eine zentrale Rolle darin spielte, zieht sich «freiwillig» zurück.

Wie geht es weiter? Zurzeit habe die Schweiz keinen Kontakt zur Hamas und es seien auch keine Treffen in Planung, lässt das EDA auf Anfrage verlauten. Der Widerstand gegen das Hamas-Verbot von links und aus Kreisen des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik lassen jedoch vermuten (siehe hier), dass noch nicht alle mit dem Hamas-Dialog abgeschlossen haben.

Zuerst erschienen beim Nebelspalter.

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Über Daniel Rickenbacher

Daniel Rickenbacher ist promovierter Historiker und arbeitet in der Analyse und Politikberatung. Er studierte Geschichte, Politik und Religion und forschte an der Universität Basel, der Ben Gurion Universität, der Concordia Universität in Montreal und an der Militärakademie an der ETH.

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