Schweizer Diplomatie in der Vertrauenskrise: Wenn Tweets wichtiger sind als Fakten

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Foto Screenshot X / eda_dfae
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Vor einem Monat veröffentlichte das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) einen Tweet zu einem israelischen Luftschlag, der vollständig die Sicht der Hamas widerspiegelte. Audiatur-Online verlangte deshalb Einsicht in die EDA-Protokolle. Diese zeigen nun: Das EDA nahm vor der Publikation des Tweets keinerlei Abklärungen vor und überwand internen Widerstand. Bundesrat Cassis wurde in den Entscheid nicht involviert.

Am 10. August veröffentlichte das EDA einen Tweet, in dem es einen israelischem Militärschlag im Gazastreifen verurteilte.

Während die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) geltend machten, dass ein militärisches Hauptquartier der Terrororganisation Hamas Ziel des Angriffs war und viele Terroristen getötet worden seien, verbreiteten die Hamas und Hamas-nahe Reporter aus dem Gazastreifen eine andere Version. Beim Vorfall sei eine Flüchtlingsunterkunft getroffen und rund 100 Zivilisten getötet worden. Militärblogger stützten später nach Analyse des Bildmaterials die israelische Version.

Einsichtsgesuch beim EDA

17 Stunden nach dem Luftschlag, der sich am frühen Morgen ereignete, publizierte das EDA seinen Tweet, der sich vollständig auf die Version der Hamas abstützte. Audiatur-Online wollte deshalb vom Aussendepartement wissen, wie es zum Tweet kam und warum die israelische Version nicht berücksichtigt wurde (s. Artikel). Konkret: Das EDA sollte darlegen, welche Schritte es unternahm, um den Sachverhalt abzuklären. Weil die Antworten des Pressesprechers unbefriedigend waren, entschloss sich Audiatur-Online, auf Grundlage des Öffentlichkeitsprinzips Einsicht zu verlangen.

Initiative ging von einzelnen Mitarbeitern aus

Nun, einen Monat später, liegen uns die 27-seitigen Chat-Protokolle des EDAs vor, in der über den Tweet beraten wird. Die Initiative für den Tweet geht von zwei EDA-Mitarbeitern aus, nennen wir sie Philipp und Dominique. Philipp arbeitet beim Staatssekretariat und Dominique bei der Kommunikationsabteilung des EDAs.  Um 14:50 meldet sich Philipp bei Dominique: Die EU, Belgien und Grossbritannien haben bereits zum Ereignis getwittert – jetzt sollte die Schweiz nach seiner Meinung nachziehen. Beide müssen jedoch erst das Einverständnis ihrer Vorgesetzten einholen.

Keine Abklärungen

Um 14:52 bittet Dominique seinen Chef um grünes Licht. Dieser verlangt den Wortlaut der Tweets der EU, Belgiens und Frankreichs, die offenbar als Vorlage für den Tweet des EDA dienen sollen. Keine weiteren Abklärungen sind im Chat-Protokoll erkennbar. Doch bevor das EDA kommuniziert, möchte Dominiques Vorgesetzter lieber erst die Reaktionen von Deutschland und Frankreich abwarten. Das verlangsamt den Prozess.

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EDA Chat-Protokoll. Quelle: EDA
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EDA Chat-Protokoll. Quelle: EDA

Tweet geht trotz Bedenken raus

Doch Philipp bleibt dran. Um 16:00 kontaktiert er seinen Vorgesetzten mit einem Tweet-Vorschlag. Dieser meldet jedoch zuerst Bedenken an: «Dass EU, BEL und (neu) UK dies tun [einen Tweet verfassen], überrascht nicht. Aber mein Eindruck ist, dass wir ganz bewusst eine zurückhaltendere Politik diesbezüglich verfolgen.» Doch Philipp drängt weiter. Er diskutiert die Argumente mit Dominique, mit dem er einen separaten Chat führt. Philipp versucht die Bedenken des Chefs auszuräumen und argumentiert, dass das EDA in letzter Zeit zu proisraelisch getweetet hat: «Es ist mir bewusst, dass es heikel ist [zu tweeten]. Nachdem wir aber zur Deeskalation aufgerufen haben und wir die Angriffe in die andere Richtung (ex: Majdal Shams) verurteilen, wäre es hier m.E. in Betracht zu ziehen.» Er erhält schliesslich um 17:41 das OK des Vorgesetzten.

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EDA Chat-Protokoll. Quelle: EDA
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EDA Chat-Protokoll. Quelle: EDA

In der Zwischenzeit hat auch Frankreich getweetet und Dominique erhält um 21.11 vom Vorgesetzten in der Kommunikationsabteilung die Autorisierung für den Tweet. Um 21: 40 wird der Tweet schliesslich veröffentlicht.

Unabhängigkeit der Schweiz ist infrage gestellt

Die Chat-Protokolle lassen mehrere Schlüsse zu:

  1. Im Prozess der Tweet-Erstellung wurde weder die örtliche Botschaft noch das israelische Verteidigungsministerium konsultiert. Man nahm schlicht die Tweets der EU, Belgiens und Grossbritanniens als Vorlage. Das heisst konkret: Es wurde kein Schritt unternommen, um den Sachverhalt abzuklären.
  2. Die Schweiz stellt sich damit in ihrer Kommunikation auf eine Stufe mit der EU, der sie nicht angehört, und mit zwei westlichen Staaten, die Israel kritisch gegenüberstehen. Dies wirft Fragen nach der Unabhängigkeit und Neutralität der schweizerischen Aussenpolitik auf.
  3. Die politische Führung um Bundesrat Ignazio Cassis hatte keine Mitsprache bei der Kommunikation, obwohl diese deutliche politische Signale aussendet. Der Vorfall zeigt, wie einzelne, motivierte Beamte in einer tiefen Hierarchiestufe die Politik des EDAs für ihre Interessen kapern können.
  4. Schliesslich: Bei der EDA-Kommunikation scheint man keinen Unterschied zwischen dem Angriff auf ein militärisches Ziel im Gazastreifen und einem Angriff auf ein ziviles Ziel in Israel (wie in Majdal Shams) zu machen. Dies widerspricht dem Völkerrecht, auf das man sich gerne beruft.

Das EDA profitiert bei seiner Kommunikation davon, dass die Öffentlichkeit auf seine Faktentreue vertraut. Dieses Vertrauen, so zeigt dieser Vorfall, ist zurzeit nicht gerechtfertigt. Um seine Glaubwürdigkeit zurückzuerlangen, sollte das EDA seine Prozesse bei der Kommunikation mit der Öffentlichkeit grundlegend überarbeiten.

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Über Daniel Rickenbacher

Daniel Rickenbacher ist promovierter Historiker und arbeitet in der Analyse und Politikberatung. Er studierte Geschichte, Politik und Religion und forschte an der Universität Basel, der Ben Gurion Universität, der Concordia Universität in Montreal und an der Militärakademie an der ETH.

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