Herta Müller: Der Krieg hat nicht in Gaza begonnen

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Die Schriftstellerin und Literatur Nobelpreis-Trägerin Herta Müller am 20. November 2020 bei einem Portraitshooting in Berlin. Foto IMAGO / Funke Foto Services
Die Schriftstellerin und Literatur Nobelpreis-Trägerin Herta Müller am 20. November 2020 bei einem Portraitshooting in Berlin. Foto IMAGO / Funke Foto Services
Lesezeit: 13 Minuten

Sie ist eine der grössten deutschen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Jetzt hat die Nobelpreisträgerin Herta Müller einen schockierenden Weckruf an den Westen geschrieben – Der Wahnsinn, der Teile der westlichen Gesellschaft seit dem Angriff der Hamas auf Israel erfasst hat:

In den meisten Berichten über den Krieg in Gaza beginnt der Krieg nicht dort, wo er begonnen hat. Der Krieg hat nicht in Gaza begonnen. Der Krieg begann am 7. Oktober, genau 50 Jahre nach dem Einmarsch Ägyptens und Syriens in Israel. Palästinensische Hamas-Terroristen verübten ein unvorstellbares Massaker in Israel. Sie filmten sich selbst als Helden und feierten ihr Blutbad. Ihre Siegesfeiern setzten sich zu Hause im Gazastreifen fort, wo die Terroristen schwer misshandelte Geiseln verschleppten und sie der jubelnden palästinensischen Bevölkerung als Kriegsbeute präsentierten. Dieser makabre Jubel reichte bis nach Berlin. Im Bezirk Neukölln wurde auf den Strassen getanzt und die palästinensische Organisation Samidoun verteilte Süssigkeiten. Im Internet häuften sich die fröhlichen Kommentare.

Mehr als 1.200 Menschen starben bei dem Massaker. Nach Folter, Verstümmelung und Vergewaltigung wurden 239 Menschen verschleppt. Dieses Massaker der Hamas ist eine totale Entgleisung der Zivilisation. In diesem Blutrausch liegt ein archaischer Schrecken, den ich in der heutigen Zeit nicht mehr für möglich gehalten hätte. Dieses Massaker hat das Muster der Vernichtung durch Pogrome, ein Muster, das die Juden seit Jahrhunderten kennen. Deshalb ist das ganze Land traumatisiert, denn die Gründung des Staates Israel sollte vor solchen Pogromen schützen. Und bis zum 7. Oktober glaubte man, dass er geschützt sei. Dabei sitzt die Hamas dem Staat Israel schon seit 1987 im Nacken. In der Gründungscharta der Hamas wurde die Vernichtung der Juden klar als Ziel genannt, und „der Tod für Gott ist unser edelster Wunsch“.

Auch wenn diese Charta seither geändert wurde, ist klar, dass sich nichts geändert hat: Die Vernichtung der Juden und die Zerstörung Israels sind nach wie vor das Ziel und der Wunsch der Hamas. Das ist genau dasselbe wie im Iran. Auch in der Islamischen Republik Iran ist die Vernichtung der Juden seit ihrer Gründung, d.h. seit 1979, Staatsdoktrin.

Wenn es um den Terror der Hamas geht, sollte der Iran immer mit in die Diskussion einbezogen werden. Es gelten die gleichen Prinzipien, weshalb der grosse Bruder Iran den kleinen Bruder Hamas finanziert, bewaffnet und zu seinem Handlanger macht. Beide sind gnadenlose Diktaturen. Und wir wissen, dass alle Diktatoren immer radikaler werden, je länger sie regieren. Heute besteht die Regierung des Iran ausschliesslich aus Hardlinern. Der Staat der Mullahs mit seinen Revolutionsgarden ist eine skrupellose, expandierende Militärdiktatur. Die Religion ist nur noch ein Deckmantel. Der politische Islam bedeutet Menschenverachtung, öffentliche Auspeitschungen, Todesurteile und Hinrichtungen im Namen Gottes. Der Iran ist vom Krieg besessen, tut aber gleichzeitig so, als ob er keine Atomwaffen bauen würde. Der Gründer der so genannten Theokratie, Ayatollah Khomeini, erliess ein religiöses Dekret, eine Fatwa, die besagt, dass Atomwaffen unislamisch sind.

Im Jahr 2002 hatten internationale Inspektoren bereits Beweise für ein geheimes Atomwaffenprogramm im Iran aufgedeckt. Ein Russe wurde angeheuert, um die Bombe zu entwickeln. Der Experte aus der sowjetischen Kernwaffenforschung war jahrelang im Iran tätig. Es scheint, dass der Iran nach dem Vorbild Nordkoreas eine nukleare Abschreckung anstrebt – und das ist ein beängstigender Gedanke. Vor allem für Israel, aber auch für die ganze Welt.

Die Kriegsbesessenheit der Mullahs und der Hamas ist so dominant, dass sie – wenn es um die Ausrottung der Juden geht – sogar die religiöse Kluft zwischen Schiiten und Sunniten überwindet. Alles andere wird dieser Kriegsbesessenheit untergeordnet. Die Bevölkerung wird absichtlich in Armut gehalten, während gleichzeitig der Reichtum der Hamas-Führung ins Unermessliche steigt – in Katar soll Ismael Haniye über Milliarden verfügen. Und die Verachtung für die Menschen kennt keine Grenzen. Für die Bevölkerung gibt es fast nur noch den Märtyrertod. Militär plus Religion als lückenlose Überwachung. In der palästinensischen Politik in Gaza gibt es buchstäblich keinen Platz für abweichende Meinungen. Die Hamas hat mit unglaublicher Brutalität alle anderen politischen Strömungen aus dem Gaza-Streifen vertrieben. Nach dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2007 wurden Fatah-Mitglieder zur Abschreckung von einem fünfzehnstöckigen Gebäude geworfen.

Unsere Gefühle sind ihre stärkste Waffe

Auf diese Weise hat die Hamas die Kontrolle über den gesamten Gazastreifen übernommen und eine unangefochtene Diktatur errichtet. Unangefochten, weil niemand, der sie in Frage stellt, lange lebt. Statt eines sozialen Netzes für die Bevölkerung hat die Hamas ein Netz von Tunneln unter den Füssen der Palästinenser gebaut. Selbst unter Krankenhäusern, Schulen und Kindergärten, die von der internationalen Gemeinschaft finanziert werden. Gaza ist eine einzige Militärkaserne, ein tiefer Staat des Antisemitismus im Untergrund. Vollständig und doch unsichtbar. Im Iran gibt es ein Sprichwort: Israel braucht seine Waffen, um sein Volk zu schützen. Und die Hamas braucht ihr Volk, um ihre Waffen zu schützen.

Dieses Sprichwort ist die kürzeste Beschreibung des Dilemmas, dass man in Gaza das Zivile nicht vom Militärischen trennen kann. Und das gilt nicht nur für die Gebäude, sondern auch für das Personal in den Gebäuden. Die israelische Armee wurde bei ihrer Reaktion auf den 7. Oktober in diese Falle gelockt. Nicht gelockt, sondern gezwungen. Gezwungen, sich zu verteidigen und sich durch die Zerstörung der Infrastruktur mit all den zivilen Opfern schuldig zu machen. Und genau diese Unvermeidbarkeit wollte und nutzt die Hamas aus. Seither steuert sie die Nachrichten, die in die Welt hinausgehen. Der Anblick des Leids beunruhigt uns täglich. Doch kein Kriegsreporter kann in Gaza unabhängig arbeiten. Die Hamas kontrolliert die Auswahl der Bilder und orchestriert unsere Gefühle. Unsere Gefühle sind ihre stärkste Waffe gegen Israel. Und durch die Auswahl der Bilder gelingt es ihr sogar, sich als alleiniger Verteidiger der Palästinenser darzustellen. Dieses zynische Kalkül hat sich ausgezahlt.

„Ganz normale Männer“

Seit dem 7. Oktober denke ich immer wieder über ein Buch über die Nazizeit nach, das Buch „Ganz normale Männer“ von Christopher R. Browning. Er beschreibt die Vernichtung jüdischer Dörfer in Polen durch das Reserve-Polizeibataillon 110, als es die grossen Gaskammern und Krematorien in Auschwitz noch nicht gab. Es war wie der Blutrausch der Hamas-Terroristen auf dem Musikfestival und in den Kibbuzim. An nur einem Tag im Juli 1942 wurden die 1.500 jüdischen Einwohner des Dorfes Józefów abgeschlachtet. Kinder und Säuglinge wurden auf der Strasse vor ihren Häusern erschossen, die Alten und Kranken in ihren Betten. Alle anderen wurden in den Wald getrieben, wo sie sich nackt ausziehen und auf dem Boden herumkriechen mussten. Sie wurden verhöhnt und gefoltert, dann erschossen und in einem blutigen Wald liegen gelassen. Das Morden wurde pervers.

Das Buch heisst „Ganz normale Männer“, weil dieses Reserve-Polizeibataillon nicht aus SS-Männern oder Wehrmachtssoldaten bestand, sondern aus Zivilisten, die wegen ihres Alters nicht mehr für den Militärdienst geeignet waren. Sie kamen aus ganz normalen Berufen und wurden zu Monstern. Erst 1962 kam es zu einem Prozess in diesem Fall von Kriegsverbrechen. Aus den Prozessakten geht hervor, dass einige der Männer „einen Riesenspass an der ganzen Sache hatten“. Der Sadismus ging so weit, dass ein frisch verheirateter Hauptmann seine Frau zu den Massakern mitbrachte, um ihre Flitterwochen zu feiern. Denn der Blutrausch ging in anderen Dörfern weiter. Und die Frau schlenderte in ihrem mitgebrachten weissen Hochzeitskleid zwischen den auf dem Marktplatz zusammengepferchten Juden umher. Sie war nicht die einzige Ehefrau, die zu Besuch kommen durfte. In den Prozessunterlagen berichtet die Frau eines Leutnants: „Eines Morgens sass ich mit meinem Mann im Garten seiner Unterkunft und frühstückte, als ein einfacher Mann aus seinem Zug an uns herantrat, eine steife Haltung einnahm und erklärte: ‚Herr Leutnant, ich habe noch nicht gefrühstückt! Als mein Mann ihn fragend ansah, erklärte er weiter: „Ich habe noch keinen Juden getötet.

Sie sind sich ihrer Freiheit nicht mehr bewusst

Ist es richtig, am 7. Oktober an die Nazimassaker zu denken? Ich denke, es ist richtig, weil die Hamas selbst die Erinnerung an die Shoah wachrufen wollte. Und sie wollte zeigen, dass der Staat Israel keine Garantie mehr für das Überleben der Juden ist. Dass ihr Staat eine Fata Morgana ist, dass er sie nicht retten wird. Die Logik verbietet es uns, das Wort Shoah in die Nähe zu bringen. Aber warum muss sie es verbieten? Weil das Gefühl, das man hat, sich dieser pulsierenden Nähe nicht entziehen kann.

Und dann fällt mir noch etwas ein, das mich an die Nazis erinnert: das rote Dreieck auf der palästinensischen Flagge. In den Konzentrationslagern war es das Symbol für kommunistische Gefangene. Und heute? Heute sieht man es wieder in den Videos der Hamas und an den Fassaden von Gebäuden in Berlin. In den Videos wird es als Aufruf zum Töten verwendet. An den Fassaden kennzeichnet es Ziele, die angegriffen werden sollen. Ein grosses rotes Dreieck prangt über dem Eingang des Techno-Clubs „About Blank“. Jahrelang tanzten hier syrische Flüchtlinge und schwule Israelis wie selbstverständlich. Doch jetzt ist nichts mehr selbstverständlich. Jetzt schreit das rote Dreieck über dem Eingang. Ein Raver, dessen jüdische Familie aus Libyen und Marokko stammt, sagt heute: „Das politische Klima erweckt alle Dämonen. Für die Rechten sind wir Juden nicht weiss genug, für die Linken sind wir zu weiss.“ Der Hass auf Juden hat sich im Berliner Nachtleben festgesetzt. Nach dem 7. Oktober ist die Berliner Clubszene buchstäblich in sich zusammengesunken. Obwohl 364 junge Menschen, Raver wie sie, auf einem Techno-Festival abgeschlachtet wurden, äusserte sich der Clubverband erst Tage später dazu. Und selbst das war nur eine oberflächliche Übung, denn Antisemitismus und Hamas wurden nicht einmal erwähnt.

Ich habe über dreissig Jahre lang in einer Diktatur gelebt. Und als ich nach Westeuropa kam, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Demokratie jemals auf diese Weise in Frage gestellt werden könnte. Ich dachte, dass die Menschen in einer Diktatur systematisch einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Und dass in Demokratien die Menschen lernen, selbst zu denken, weil das Individuum zählt. Anders als in einer Diktatur, wo das eigenständige Denken verboten ist und das Zwangskollektiv die Menschen erzieht. Und wo der Einzelne nicht Teil des Kollektivs ist, sondern ein Feind. Ich bin entsetzt, dass die jungen Menschen, die Studenten im Westen, so verwirrt sind, dass sie sich ihrer Freiheit nicht mehr bewusst sind. Dass sie offenbar die Fähigkeit verloren haben, zwischen Demokratie und Diktatur zu unterscheiden.

Ich frage mich auch, ob die Studenten an vielen amerikanischen Universitäten wissen, was sie tun, wenn sie bei den Demonstrationen skandieren: „Wir sind Hamas“ oder sogar „Geliebte Hamas, bombardiert Tel Aviv!“ oder „Zurück nach 1948“. Ist das noch unschuldig oder schon schwachsinnig? Obwohl das Massaker vom 7. Oktober bei diesen Demonstrationen nicht mehr erwähnt wird. Und es ist empörend, wenn der 7. Oktober sogar als eine von Israel inszenierte Veranstaltung interpretiert wird. Oder wenn kein einziges Wort über die Forderung nach Freilassung der Geiseln verloren wird. Wenn stattdessen der Krieg Israels in Gaza als willkürlicher Eroberungs- und Vernichtungskrieg einer Kolonialmacht dargestellt wird.

Schauen junge Leute immer nur Clips auf Tiktok? Inzwischen kommen mir die Begriffe Follower, Influencer, Aktivist nicht mehr harmlos vor. Diese schnittigen Internetbegriffe sind ernst gemeint. Es gab sie alle schon vor dem Internet. Ich übersetze sie in die damalige Zeit zurück. Und plötzlich werden sie starr wie Blech und überdeutlich. Denn ausserhalb des Internets bedeuten sie Mitläufer, Einflussnehmer, Aktivisten. Als wären sie vom Übungsplatz einer faschistischen oder kommunistischen Diktatur übernommen worden. Ihre Geschmeidigkeit ist ohnehin eine Illusion. Denn ich weiss, dass die Worte tun, was sie sagen. Sie fördern Opportunismus und Gehorsam im Kollektiv und ersparen es den Menschen, Verantwortung für das zu übernehmen, was die Gruppe tut.

Es würde mich nicht wundern, wenn einige der Demonstranten Studenten wären, die noch vor wenigen Monaten mit dem Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“ gegen die Unterdrückung im Iran protestiert haben. Es entsetzt mich, wenn dieselben Demonstranten sich heute mit der Hamas solidarisieren. Es scheint mir, dass sie den abgrundtiefen Widerspruch des Inhalts nicht mehr verstehen. Und ich frage mich, warum es sie nicht kümmert, dass die Hamas nicht einmal die kleinste Demonstration für die Rechte der Frauen zulässt. Und dass am 7. Oktober die vergewaltigten Frauen als Kriegsbeute vorgeführt wurden.

Auf dem Campus der University of Washington spielen die Demonstranten zur Unterhaltung das Gruppenspiel „Volkstribunal“. Vertreter der Universität werden zum Spass vor Gericht gestellt. Und dann folgen die Urteile, und alle brüllen im Chor: „Ab an den Galgen“ oder „Guillotine“. Es wird geklatscht und gelacht, und sie taufen ihren Lagerplatz „Märtyrerplatz“. In Form von Happenings feiern sie mit gutem Gewissen ihre eigene kollektive Dummheit. Man fragt sich, was heute an den Universitäten gelehrt wird.

Mir scheint, dass sich der Antisemitismus seit dem 7. Oktober wie ein kollektives Fingerschnippen verbreitet hat, als wäre die Hamas der Influencer und die Schüler die Follower. In der Medienwelt der Influencer und ihrer Follower zählen nur die schnellen Klicks der Videos. Das Flattern der Wimpern, das Klopfen der lebhaften Emotionen. Hier funktioniert der gleiche Trick wie in der Werbung.

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„Hands of Rafah“ Demonstration in Den Haag am 28.05.2024. Foto IMAGO / ZUMA Press Wire

Nimmt die Empfänglichkeit der Massen, die der Grund für die Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts war, eine neue Wendung? Komplizierte Inhalte, Nuancen, Zusammenhänge und Widersprüche, Kompromisse sind der Medienwelt fremd.

Das zeigt sich auch in einem dummen Aufruf von Internetaktivisten gegen die Oberhausener Kurzfilmtage. Es ist das älteste Kurzfilmfestival der Welt und feiert in diesem Jahr sein siebzigjähriges Bestehen. Viele grosse Filmemacher haben hier ihre Karriere mit frühen Werken begonnen. Miloš Forman, Roman Polański, Martin Scorsese, István Szabó und Agnès Varda. Zwei Wochen nach den Hamas-Feiern auf den Strassen Berlins schrieb der Festivaldirektor Lars Henrik Gass: „Eine halbe Million Menschen sind im März 2022 auf die Strasse gegangen, um gegen den Einmarsch Russlands in die Ukraine zu protestieren. Das war wichtig. Bitte lasst uns jetzt ein ebenso starkes Zeichen setzen. Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle! Bitte!“

Dies löste eine feindselige Reaktion im Internet aus. Eine anonyme Gruppe warf ihm vor, die Solidarität mit der palästinensischen Befreiung zu verteufeln. Die Gruppe versicherte ihm, dass sie die internationale Filmgemeinschaft „ermutigen“ würde, ihre Teilnahme an dem Festival zu überdenken. Ein versteckter Aufruf zum Boykott, dem viele Filmemacher folgten und ihr Engagement absagten. Lars Henrik Gass sagt zu Recht, dass wir derzeit einen Rückschritt in der politischen Debatte erleben. Anstelle von politischem Denken herrscht ein esoterisches Politikverständnis vor. Dahinter steht der Wunsch nach Konsistenz und der Druck zur Konformität. Auch in der Kunstszene ist es unmöglich geworden, zwischen dem Eintreten für das Existenzrecht Israels und der gleichzeitigen Kritik an seiner Regierung zu differenzieren.

Deshalb wird nicht einmal darüber nachgedacht, ob die weltweite Empörung über die vielen Toten und das Leid in Gaza nicht Teil der Strategie der Hamas sein könnte. Sie ist taub und blind für das Leid ihres Volkes. Warum sonst würde sie den Grenzübergang Kerem Shalom beschiessen, wo die meisten Hilfslieferungen ankommen? Oder warum sonst sollte sie auf die Baustelle eines provisorischen Hafens schiessen, wo bald Hilfslieferungen ankommen sollen? Wir haben von Herrn Sinwar und Herrn Haniye nicht ein einziges Wort des Mitgefühls für die Menschen in Gaza gehört. Und statt des Wunsches nach Frieden, nur Maximalforderungen, von denen sie wissen, dass Israel sie nicht erfüllen kann. Die Hamas setzt auf einen permanenten Krieg mit Israel. Er wäre die beste Garantie für ihre weitere Existenz. Die Hamas hofft auch, Israel international zu isolieren, koste es, was es wolle.

In Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ heisst es, der Nationalsozialismus habe „alles Deutsche für die Welt unerträglich gemacht“. Ich habe den Eindruck, dass die Strategie der Hamas und ihrer Unterstützer darin besteht, alles Israelische und damit alles Jüdische für die Welt unerträglich zu machen. Die Hamas will den Antisemitismus als globale Dauerstimmung aufrechterhalten. Deshalb will sie auch die Shoah umdeuten. Auch die Verfolgung durch die Nazis und die Rettungsflucht nach Palästina sollen in Frage gestellt werden. Und letztlich auch das Existenzrecht Israels. Diese Manipulation geht so weit zu behaupten, das deutsche Holocaust-Gedenken diene nur als kulturelle Waffe, um das westlich-weisse „Siedlungsprojekt“ Israel zu legitimieren. Solche ahistorischen und zynischen Umkehrungen des Täter-Opfer-Verhältnisses sollen jede Differenzierung zwischen der Shoah und dem Kolonialismus verhindern. Mit all diesen gestapelten Konstruktionen wird Israel nicht mehr als die einzige Demokratie im Nahen Osten gesehen, sondern als kolonialistischer Musterstaat. Und als ewiger Aggressor, gegen den blinder Hass gerechtfertigt ist. Und sogar der Wunsch nach seiner Vernichtung.

Der jüdische Dichter Yehuda Amichai sagt, dass ein Liebesgedicht auf Hebräisch immer ein Gedicht über den Krieg ist. Oft ist es ein Gedicht über den Krieg inmitten eines Krieges. Sein Gedicht „Jerusalem 1973“ erinnert an den Jom-Kippur-Krieg:

„Traurige Männer tragen die Erinnerung, in ihrem Rucksack, in ihren Seitentaschen, an ihren Munitionsgürteln, in den Taschen ihrer Seelen, in schweren Traumblasen unter ihren Augen.“

Als Paul Celan 1969 Israel besuchte, übersetzte Amichai Celans Gedichte und las sie auf Hebräisch vor. Hier trafen sich zwei Überlebende der Shoah. Jehuda Amichai wurde Ludwig Pfeuffer genannt, als seine Eltern aus Würzburg flohen.

Der Besuch in Israel bewegte Celan. Er traf Schulfreunde aus Czernowitz in Rumänien, die im Gegensatz zu seinen ermordeten Eltern nach Palästina hatten fliehen können. Paul Celan schrieb nach seinem Besuch und kurz vor seinem Tod in der Seine an Jehuda Amichai: „Lieber Jehuda Amichai, lassen Sie mich das Wort wiederholen, das mir während unseres Gesprächs spontan über die Lippen kam: Ich kann mir die Welt ohne Israel nicht vorstellen, und ich will sie mir auch nicht ohne Israel vorstellen.“

Herta Müller, Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin las diesen Text am 25. Mai auf dem 7. Oktober-Forum der „Jüdischen Kultur in Schweden“ in Stockholm. Übersetzung und Erstpublikation „Truth Of The Middle East“.

3 Kommentare

  1. Die Radikalisierung in der Politik verübt die Verdummung der Menschheit ! Der Rassistische Fanatismus wird damit lebendig gehalten, indem ein Terroristenkrieg von Ländern wie Iran mit Waffen und Technologie, unterstützt wird: Hamas /Hisbollah haben das Ziel Israel ausradieren zu wollen und benutzen Palestinenser/Libanesen als Attrappe dafür. Der Artikel widerspiegelt dieses Schicksal Israels. Dennoch werdem die Juden der Welt dies mit ihre Intelligenz verhindern !

  2. Wahre Worte, traurige Worte. Wie weit sind wir hier in Europa gekommen? Und wieder einmal nichts aus der Geschichte gelernt. Gerade Europa sollte differenzierter sein und nicht jeder noch so plumpen Lüge und Behauptung Glauben schenken. Dieser Artikel müsste zur Pflichtlektüre werden für sämmtliche Medienorgane. Warum nur ist Europa wieder an diesem Punkt angelangt wo es nicht zwischen Fakten und Unwahrheiten unterscheiden kann oder will?
    Ihr Artikel ist aufwühlend und trotzdem etwas vom Besten was ich zum Thema gelesen habe. Ich zolle Ihnen hierfür allergrössten Respekt.

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