Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat am Freitag sein Urteil über den jüngsten Antrag Südafrikas auf zusätzliche vorläufige Massnahmen im Rahmen der Völkermordkonvention erlassen. Südafrika ersuchte den Gerichtshof darum, Israel anzuweisen, seine Militäroperationen im Gazastreifen, einschliesslich der Rafah-Operation, unverzüglich einzustellen und sich vollständig und bedingungslos vom Rafah-Übergang und dem gesamten Gazastreifen zurückzuziehen.
Ein Kommentar von Andrew Tucker
Der Gerichtshof „stellt fest, dass Israel keine ausreichenden Informationen über die Sicherheit der Bevölkerung während des Evakuierungsprozesses oder über die Verfügbarkeit von Wasser, sanitären Einrichtungen, Nahrungsmitteln, Medikamenten und Unterkünften für die 800’000 bisher evakuierten Palästinenser im Gebiet von Al-Mawasi vorgelegt hat. Folglich ist der Gerichtshof der Ansicht, dass Israel die Bedenken, die durch seine Militäroffensive in Rafah entstanden sind, nicht ausreichend berücksichtigt und ausgeräumt hat“.
Die Feststellungen des Gerichtshofs
Der IGH „stellt fest, dass die derzeitige Situation, die sich aus Israels Militäroffensive in Rafah ergibt, ein weiteres Risiko eines nicht wiedergutzumachenden Schadens für die von Südafrika geltend gemachten Rechte mit sich bringt und dass Dringlichkeit in dem Sinne besteht, dass ein reales und unmittelbares Risiko besteht, dass ein solcher Schaden entsteht, bevor der Gerichtshof seine endgültige Entscheidung trifft.“
Die Entscheidung des Gerichtshofs
Dementsprechend hat der IGH heute wie folgt entschieden (13 Stimmen gegen 2 – Vizepräsident Sebutinde und Ad-hoc-Richter Barak sind anderer Meinung):
(1) bekräftigt die in seinen Beschlüssen vom 26. Januar 2024 und 28. März 2024 genannten vorläufigen Maßnahmen, die unverzüglich und wirksam umgesetzt werden müssen;
(2) verweist auf die folgenden vorläufigen Massnahmen:
Der Staat Israel hat in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes und in Anbetracht der sich verschlechternden Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung im Gouvernement Rafah:
(a) seine Militäroffensive und jede andere Aktion im Rafah-Gouvernement sofort einzustellen, die der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen Lebensbedingungen auferlegen könnte, die ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten;
(b) den Grenzübergang Rafah für die ungehinderte Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe in grossem Umfang offen zu halten;
(c) wirksame Massnahmen zu ergreifen, um den ungehinderten Zugang von Untersuchungskommissionen, Erkundungsmissionen oder anderen Untersuchungsorganen, die von den zuständigen Organen der Vereinten Nationen mit der Untersuchung von Völkermordvorwürfen beauftragt sind, zum Gazastreifen zu gewährleisten;
(3) beschliesst, dass der Staat Israel dem Gerichtshof innerhalb eines Monats ab dem Datum dieses Beschlusses einen Bericht über alle Massnahmen vorlegt, die zur Umsetzung dieses Beschlusses getroffen wurden.
Kommentar
- Dies ist ein weiteres Beispiel für die höchst problematische Tradition der kreativen Mehrdeutigkeit des Gerichtshofs bei der Formulierung. Hat der Gerichtshof entschieden, dass Israel die Rafah-Operation sofort und in vollem Umfang einstellen muss? Nicht ganz. Der Beschluss besagt, dass Israel seine Militäroffensive in Rafah nur insoweit einstellen muss, als sie „der palästinensischen Bevölkerung in Gaza Lebensbedingungen auferlegen kann, die ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen können“. Mit anderen Worten scheint es, dass der Gerichtshof Israel erlaubt, die Operation in Rafah fortzusetzen, solange sie nicht die „Zerstörung“ der palästinensischen Bevölkerung in Gaza zur Folge hat.
- Diese Nuance wird jedoch unweigerlich ignoriert werden, und das Urteil wird in den Medien und von Südafrika und seinen Unterstützern bereits als Sieg und absolutes Verbot der Rafah-Kampagne interpretiert.
- Dies ist bemerkenswert, da nicht bewiesen wurde, dass Israel die Absicht hat, einen Genozid zu begehen – und Absicht ist eine conditio sine qua non für das Verbrechen des Völkermords. Mit anderen Worten: Der Gerichtshof schränkt Israels Möglichkeiten ein, die Hamas zu besiegen und die Geiseln zu retten (die unter grober Verletzung des Völkerrechts entführt wurden), nur weil der Gerichtshof der Ansicht ist, dass Israel nicht bewiesen hat, dass die 800’000 Palästinenser, die aus Rafah evakuiert wurden, ausreichend Wasser, sanitäre Einrichtungen, Lebensmittel, Medikamente und Unterkünfte erhalten. Dies ist eine Umkehrung der Beweislast. Siehe die abweichende Meinung von Richter Barak.
- Wie Richter Barak überzeugend darlegt, handelt es sich auch um eine Verwechslung des humanitären Völkerrechts (HVR) mit der Genozidkonvention. Es ist nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, das Recht des bewaffneten Konflikts im Zusammenhang mit einem Genozidfall durchzusetzen.
- Auf jeden Fall ist es nach dem humanitären Völkerrecht nicht die (alleinige) Verantwortung Israels, dafür zu sorgen, dass die Bewohner von Rafah über ausreichende sanitäre Einrichtungen, Wasser usw. verfügen. Warum wird Ägypten nicht in gleicher Weise für die Bewohner von Rafah verantwortlich gemacht, wenn man bedenkt, dass Rafah in unmittelbarer Nähe zu Ägypten liegt?
- Richter Barak: „Um die Bedrohung durch die Hamas zu verhindern und abzuwehren und die Geiseln zu befreien, muss Israel militärische Operationen in Rafah und im gesamten Gazastreifen durchführen. Es hat sowohl das Recht als auch die Pflicht, diese Bedrohungen und Angriffe zu verhindern und abzuwehren. Wie von höchster Stelle erklärt, hat Israel nur ein Ziel: die Hamas zu besiegen und die Geiseln nach Israel zurückzubringen.“
- Dass sich der Gerichtshof auf UN-Berichte stützt, ist gelinde gesagt alarmierend. Wie der Ad-hoc-Richter Barak feststellte: „Die Art und Weise, wie der Gerichtshof Beweise zu den Bedingungen für die Verhängung vorläufiger Massnahmen zum Schutz der Rechte gemäss der UN-Genozidkonvention behandelt, ist besonders besorgniserregend. Das Gericht stützt sich in erster Linie auf Erklärungen von Vertretern der Vereinten Nationen in sozialen Medien und auf Pressemitteilungen einschlägiger Organisationen… Es verlässt sich auf diese Erklärungen und Pressemitteilungen, ohne überhaupt zu untersuchen, auf welche Art von Beweisen sie sich stützen. Der Ansatz des Gerichts steht in krassem Gegensatz zu seiner früheren Rechtsprechung, in der es festgestellt hat, dass „Berichte der Vereinten Nationen [nur] insoweit ein zuverlässiges Beweismittel sind, als sie einen Beweiswert haben und gegebenenfalls durch andere glaubwürdige Quellen bestätigt werden“. Im vorliegenden Fall wurden die vom Gerichtshof festgestellten Erklärungen und Pressemitteilungen einfach nicht bestätigt.“
- Die Legitimität des Gerichtshofs wird durch diese Völkermord-Verfahren auf eine harte Probe gestellt. Es ist unverständlich, dass der Gerichtshof sich manipulieren lässt, um Israel daran zu hindern, die Hamas zu besiegen und die Geiseln zu befreien. Der Gerichtshof wird eindeutig von Südafrika und Nicaragua im Namen der PLO und ihrer Unterstützer manipuliert, um die Fähigkeit eines souveränen UN-Mitgliedsstaates einzuschränken, notwendige und verhältnismässige Massnahmen zur Verteidigung seiner Bürger gegen Gewalt und Terror zu ergreifen.
- Die Urteile des Gerichtshofs schränken auch Israels Möglichkeiten ein, die Hamas an weiteren Handlungen zu hindern, mit denen sie ihre erklärte Absicht verfolgt, einen Genozid am jüdischen Volk zu begehen. Dies ist eine Umkehrung der Gerechtigkeit. Um noch einmal Richter Barak zu zitieren: „Der Schlüssel zur Beendigung dieses Krieges liegt nicht darin, den Gerichtshof zu bitten, in diesen Konflikt einzugreifen, indem er unbegründete Anschuldigungen des Völkermordes gegen Israel erhebt. Der Schlüssel zur Beendigung dieses Krieges liegt in den Händen der Hamas. Die Hamas hat den Krieg begonnen und kann ihn beenden, indem sie die Geiseln freilässt und die Sicherheit des Staates Israel und seiner Bürger vollständig respektiert.“
Richter Barak: „Der Weg, den der Gerichtshof eingeschlagen hat, ist ein gefährlicher Weg. Er schwächt das Regime der Genozidkonvention, indem er sie zur Schlichtung eines bewaffneten Konflikts benutzt (oder missbraucht). Wie können die Staaten dem Gerichtshof die Beilegung von Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung multilateraler Übereinkommen anvertrauen, wenn diese zu Zwecken verwendet werden, die völlig von der ursprünglichen Absicht der Vertragsparteien abweichen?“
Das Urteil des Gerichtshofs kann hier eingesehen werden: Press Release, No. 2024/47
Andrew Tucker ist der Direktor von thinc. The Hague Initiative for International Cooperation. Auf Englisch zuerst erschienen bei thinc. Übersetzung und Redaktion Audiatur-Online.
Das Urteil ist ebenso wie Verfahren und deutsche Reaktionen ein gewaltiger Skandal. Am besten die Legitimität des Gerichtsverfahren anerkennen und endlich sinwar in Einzelteilen aus rafah herausholen.