Das Einräumen des Vorrangs für die falsche Sorge um zivile Opfer im Gazastreifen verunmöglicht es, die palästinensische Denkweise zu ändern und den Konflikt auf eine entschiedenere Weise zu beenden.
von Jonathan Tobin
Kontrafaktische Geschichte oder „Was wäre wenn?“-Szenarien über Ereignisse, die nicht eingetreten sind, können eine unterhaltsame Lektüre sein, ohne notwendigerweise viel Licht auf die Vergangenheit zu werfen. Aber oft ist es unmöglich, dem Drang zu widerstehen, sich zu fragen, wie die Geschichte hätte verändert werden können. Das ist besonders dann der Fall, wenn es um grosse Tragödien wie Kriege geht, die hätten vermieden werden können, wenn sich klügere Führer durchgesetzt hätten, oder wenn, wie es manchmal der Fall ist, zufällige Ereignisse nicht eine Reihe von Handlungen ausgelöst hätten, die zur Katastrophe führten.
Es ist viel einfacher, dieses Spiel in Retrospektive zu spielen als in Echtzeit. Wir alle gehen rückwärts in die Geschichte, den Blick fest auf die Vergangenheit gerichtet, oft mit wenig oder gar keiner Ahnung, was in der Welt geschehen wird. Und die Verwirrung über Entscheidungen, die im sprichwörtlichen „Nebel des Krieges“ und in den politischen Wirren getroffen werden, ist so gross, dass es in der Regel schwierig ist, zu erkennen, wie weitreichend die Auswirkungen sein werden. Dennoch gibt es Momente, in denen die Entscheidungen von Führern, Nationen und Bewegungen so unmittelbare Folgen haben, dass es offensichtlich ist, dass sich der Lauf der Geschichte verändert hat – vielleicht unwiderruflich.
Ich würde behaupten, dass wir gerade einen solchen historischen Moment erleben.
Die von der Hamas verübten Massaker vom 7. Oktober haben das Wesen des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern verändert. Nach dem schlimmsten Massenmord an Juden seit dem Holocaust war die Vorstellung, dass Israel mit einem von der Hamas regierten Gazastreifen koexistieren könnte, der trotz der israelfeindlichen Propaganda, er sei „besetzt“, nur dem Namen nach als unabhängiger palästinensischer Staat fungierte, nicht mehr haltbar. Israel war nicht länger von der Überzeugung geleitet, dass der Status quo erhalten werden sollte, und verfolgte das Ziel, die Hamas und ihren Terrorstaat zu beseitigen.
Ursprünglich haben die Vereinigten Staaten dieses Ziel befürwortet und unterstützen es zumindest theoretisch immer noch. Doch kaum hatte Präsident Joe Biden diese Worte ausgesprochen, nahm er sie durch seine politischen Massnahmen und den auf Israel ausgeübten Druck in Wahrheit wieder zurück.,
Er beugte sich dem Druck des intersektionellen linken Flügels seiner eigenen Partei, der Israel als „weissen Unterdrücker“ und „Apartheid“-Staat ansieht, und akzeptierte implizit die Hamas-Propaganda über zivile Opfer, indem er Israels Kriegsanstrengungen als „übertrieben“ bezeichnete und behauptete, dass Israel sich der „wahllosen“ Tötung von Palästinensern schuldig gemacht habe. Dies war und ist völlig falsch. Doch anstatt auf die Pro-Hamas- und antisemitischen Proteste einzugehen, die auf den Universitäten und in den Strassen der Städte des Landes ausbrachen, schien Biden von den linken Angriffen auf Israel eingeschüchtert zu sein, die von den Konzernmedien aufgegriffen wurden.
Genauso wichtig ist, dass er (wie immer) auf die gängige Meinung von einigen immergleichen Ex-Beamten der Obama-Regierung hörte, die immer noch in Entscheidungspositionen sind.
Sie sagten ihm, es sei falsch, dass Israel versuche, die Hamas zu besiegen. Sie sagten, die Hamas sei eine „Idee“ und könne daher nicht besiegt werden. Mehr noch, sie drängten ihn, diesen Moment zu nutzen, um zu denselben Patentrezepten zurückzukehren, die die so genannten Aussenpolitikexperten der Welt aufzwingen wollten, um den Nahen Osten zu regeln. Das bedeutete eine weitere Runde der Diplomatie mit dem Ziel, Israel dazu zu bringen, die Gründung eines palästinensischen Staates in Judäa, Samaria, Gaza und einem Teil Jerusalems zu akzeptieren. Und das, obwohl die Palästinenser – die „Gemässigten“ in der Fatah-Partei, die die korrupte und den Terrorismus unterstützende Palästinensische Autonomiebehörde leiten, sowie die Islamisten der Hamas – im letzten Jahrhundert immer wieder bewiesen haben, dass sie kein Interesse an einem solchen Vorhaben haben, wenn es sie dazu zwingt, neben einem jüdischen Staat zu leben, ganz gleich, wo dessen Grenzen gezogen werden.
Die amerikanische Entscheidung, Israels Gegenoffensive im Gazastreifen zu bremsen, zwang die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nicht dazu, ihre Entschlossenheit zur Vernichtung der Hamas aufzugeben. Aber die amerikanische Haltung – die zum Teil auf den Widerwillen vieler Mitglieder des israelischen Militärs und Geheimdienstes zurückzuführen ist, ihre langjährige Überzeugung, den Status quo mit der Hamas auf unbestimmte Zeit aufrechtzuerhalten, vollständig aufzugeben – hat die israelische Armee ausgebremst und letztlich daran gehindert, ihr Ziel zu erreichen. Die Hamas wurde in ihre letzte Enklave in Rafah zurückgedrängt, belästigt aber weiterhin die IDF an Orten, aus denen sie bereits vertrieben wurde.
Sobald die IDF in Rafah einmarschiert, wird der jüdische Staat von der ganzen Welt verurteilt werden. Das gängige Narrativ, dass Israel in Gaza Kriegsverbrechen oder sogar „Völkermord“ begeht, ist eine Lüge. Aber die Bereitschaft so vieler Menschen weltweit, dies zu glauben und die Ziele der Hamas als unterstützenswert zu betrachten, bestärkt die Terrogruppe in der Wahrnehmung, dass die Wiederaufnahme des Krieges zur Auslöschung der Existenz Israels mit unsäglichen Gräueltaten ihr Ansinnen eher gestärkt als untergraben hat.
Die Entschlossenheit der USA, Israel nicht nur mit einem Waffenstillstand nach Ende seiner Offensive in Gaza zu bestrafen, sondern auch die Palästinenser für die Angriffe der Hamas zu belohnen, wird die Palästinenser in ihrer Weigerung bestärken, Frieden unter jeglichen Bedingungen zu akzeptieren, es sei denn einem Ende Israels.
Das ist eine Tragödie. Und das nicht nur für Israel, das weiss, dass der existenzielle Kampf um seinen Staat nicht nur weitergehen, sondern auch immer blutiger und bitterer werden wird, nachdem die Hamas die vorherrschende Kraft in der palästinensischen Politik geworden ist. Die Tatsache, dass die Welt auf den 7. Oktober mit einer Verurteilung Israels reagierte und versuchte, das Land zu isolieren, weil es die Unverfrorenheit besass, sich nach einem Angriff zu verteidigen, wird alle palästinensischen Gruppierungen dazu veranlassen, es der Hamas gleich zu tun.
Israels Regierung wiederum, wird einen unabhängigen palästinensischen Staat nicht akzeptieren, der unvermeidlich eine tödliche Bedrohung darstellen würde, die der 7. Oktober in Bezug auf Gaza bewiesen hat.
Das bedeutet, dass beide Bevölkerungen in einem Konflikt gefangen sind, aus dem es auf absehbare Zeit keinen Ausweg gibt. Das bedeutet mehr Isolation für Israel und die Gewissheit von mehr Blutvergiessen. Es bedeutet auch eine weitere Generation des Leidens für die Palästinenser. Sie werden weiterhin einen Krieg führen, der letztlich ein vergebliches und blutiges Unterfangen für sie sein wird.
Aber es hätte nicht so kommen müssen. Nach dem 7. Oktober bestand die Möglichkeit, ein ganz anderes Szenario zu entwickeln, das zwar mit vielen Kämpfen und Blutvergiessen verbunden gewesen wäre, das aber zumindest eine Chance für die Beendigung des Konflikts geboten hätte. Und obwohl diese Diskussion als sinnlose Übung in kontrafaktischer Geschichte abgetan werden könnte, würde ich behaupten, dass sie eine vernünftigere und in der Tat moralischere Alternative zum Kurs der Biden-Regierung aufzeigt – ganz zu schweigen von den Forderungen der intersektionellen und islamistischen Linken, die einen vollständigen Bruch der Allianz zwischen den USA und Israel anstreben.
Was wäre, wenn Biden, anstatt einen Rückzieher bei seiner Unterstützung für Israel zu machen, bei seinen Erklärungen vom 8. Oktober geblieben wäre, den Krieg gegen die Hamas zu unterstützen?
Was wäre, wenn die Vereinigten Staaten alles getan hätten, um eine schnelle und entschlossene Offensive zu unterstützen, anstatt sie zu verlangsamen und Israel dazu zu zwingen, Hilfsgüter in die von der Hamas kontrollierten Gebiete zu bringen?
Was wäre, wenn die Regierung, anstatt den 7. Oktober als Vorwand zu nutzen, um die gescheiterte Zwei-Staaten-Politik der Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, gesagt hätte, dass solche Bemühungen auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt werden, bis die Palästinenser – von denen die überwiegende Mehrheit die Angriffe und Gräueltaten unterstützt hat – bewiesen haben, dass sie bereit sind, in Frieden mit dem jüdischen Staat zu leben?
Was wäre, wenn Israel die Hamas schnell zerschlagen und sie trotz der Schwierigkeiten, sie aus ihren Tunnelkomplexen zu vertreiben, von jeglicher Hilfe abgeschnitten hätte – sei es durch die Tunnel nach Rafah aus Ägypten oder durch die internationale Hilfe, die von den Terroristen gestohlen wurde, anstatt an die bedürftigen Palästinenser zu gehen?
Was wäre, wenn die IDF trotz der Verluste und der Verurteilung durch die Hamas-Anhänger deren Niederlage schon vor Monaten vollendet hätte, anstatt sich in der gegenwärtigen schwierigen Situation zu befinden, in der sie sich jetzt befindet?
Wie bei jeder kontrafaktischen Situation werden wir die endgültigen Antworten auf diese Fragen nie erfahren. Wir sollten uns auch darüber im Klaren sein, dass ein Teil des Problems auf das Versagen der politischen, militärischen und geheimdienstlichen Führung Israels zurückzuführen ist – vor, am und nach dem 7. Oktober.
Aber stellen wir uns ein Szenario vor, in dem Israel bereit war, nach den Angriffen entschlossen zu handeln, und in dem Washington ebenso wie Jerusalem auf einen schnellen und vollständigen militärischen Sieg in Gaza erpicht gewesen wäre.
Dies hätte die internationale Gemeinschaft nicht völlig davon abgehalten, sich zur Verteidigung der Hamas zu versammeln. Aber eine entschlossene Militärkampagne, die an dem Ziel festhielt, die Hamas auszulöschen, hätte die wachsende Kampagne zur Dämonisierung des jüdischen Staates, die wir in Europa und an amerikanischen Universitäten beobachten konnten, weitgehend verhindert. Eine vollendete Tatsache, bei der die Hamas ausgelöscht und die Palästinenser gezwungen worden wären, die Folgen des Terrorismus zu akzeptieren, wäre weder bei den Vereinten Nationen noch bei modischen linken Akademikern beliebt gewesen. Aber ihre Proteste wären dadurch weitgehend an den Rand gedrängt worden.
Hätten die Palästinenser gesehen, dass niemand Israel aufhielte, dass die Fortsetzung ihres jahrhundertealten Krieges gegen den Zionismus wenig oder gar keine Unterstützung fände und dass die Amerikaner voll und ganz hinter den Israelis stünden, hätten sie sich vielleicht weiterhin in ihrer gesellschaftsweiten Umarmung der Politik der Selbstzerstörung gesuhlt. Aber sie wären mit den Konsequenzen des islamistischen Wahnsinns konfrontiert worden, nämlich mit einem Gaza, das durch die Kämpfe in Schutt und Asche gelegt worden wäre, und mit der Isolation, die sie für ihre Barbarei erfahren hätten. Es besteht die Chance, dass diese Vergeltungsmassnahmen den Anstoss für einen Wandel in ihrer politischen Kultur gegeben hätten, der die einzige Hoffnung auf einen möglichen Frieden ist.
Unabhängig davon, ob es möglich ist, sich dieses kontrafaktische Szenario so vorzustellen oder nicht, ist ein solches Zusammentreffen von Ereignissen die einzige realistische Chance, dass die Palästinenser zu einer solchen Schlussfolgerung gebracht werden können. Und das gilt unabhängig davon, welche Fehler die israelische Führung gemacht hat.
Die Analogie zu Israels Position im Gazastreifen war nicht mit den postkolonialen Kämpfen in der Dritten Welt oder der Aufstandsbekämpfung im Irak oder in Afghanistan zu vergleichen. Vielmehr ging es um die Alliierten in Deutschland im Jahr 1945, als die rohe Gewalt der militärischen Macht die „Idee“ des Nationalsozialismus zusammen mit dem völkermörderischen Regime, das er hervorgebracht hatte, vernichtete. Ein ähnlicher Einsatz von Gewalt, begleitet von der Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft, ihre Fantasien über eine Welt ohne Israel nicht weiter zu fördern, hätte die Palästinenser vielleicht dazu gezwungen, die gleiche Entscheidung zu treffen wie die Deutschen und ihre Ideologie aufzugeben, um wieder in die Gemeinschaft der Nationen aufgenommen zu werden. Vielleicht ist das nationale Selbstverständnis der Palästinenser zu sehr mit ihrer Überzeugung verbunden, dass Israel nicht existieren sollte. Aber die Weigerung von Biden und so vielen anderen, diese Option auch nur in Betracht zu ziehen, wird verheerende Folgen für Juden und Araber haben.
Es stimmt, dass – wenn überhaupt – nur wenige historische Ereignisse wirklich unvermeidlich sind. So wissen wir heute zum Beispiel, dass diejenigen, die sich in den 1930er Jahren gegen die Beschwichtigungspolitik gegenüber Nazi-Deutschland aussprachen, Recht hatten. Aber so sehr wir auch Winston Churchill für seine vorausschauenden Warnungen vor dem, was kommen würde, loben sollten, so gab es doch einen Grund, warum die meisten in Grossbritannien und anderswo sich ihm widersetzten, bis es zu spät war, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust abzuwenden. Sie dachten, alles sei besser als ein weiterer Krieg mit Deutschland, und wie es bei schockierenden Taten oft der Fall ist, glaubten viele, wenn nicht die meisten vernünftigen Menschen nicht, dass das, was geschehen würde, möglich oder auch nur vorstellbar war. Wir kommen nicht umhin, Neville Chamberlain zu verurteilen, aber wir müssen dabei immer bedenken, dass weder er noch seine Anhänger wussten, wie die Geschichte ausgehen würde, auch wenn wir glauben, dass sie es hätten wissen müssen.
Dennoch gibt es Zeiten, in denen man mit einem gewissen Mass an Zuversicht „was wäre wenn“ spielen und sagen kann, dass getroffene Entscheidungen schreckliche Dinge verursacht haben, die wahrscheinlich eintreten werden und die Möglichkeit eines besseren Ergebnisses ausschließen. Biden und das außenpolitische Establishment hatten in den letzten 30 Jahren reichlich Gelegenheit, die Schaffung eines palästinensischen Staates zu versuchen, daran zu scheitern und zu sehen, was passiert, wenn man den Islamisten das Überleben ermöglicht, anstatt sie vollständig zu besiegen.
Hätten Biden und seine aussenpolitischen Experten die richtigen Schlüsse aus den letzten drei Jahrzehnten der Friedensbemühungen gezogen, in denen das Hindernis immer die palästinensische Ablehnung war – eine Lehre, die die Trump-Administration verinnerlicht hatte und die ihre erfolgreichen Bemühungen um die Ausarbeitung des Abraham 2020-Abkommens leitete – hätten sie nach dem 7. Oktober vielleicht einen anderen Kurs eingeschlagen. Zumindest hätte dieser keine schlechteren Ergebnisse als die jetzige Lage gebracht, wo die Hamas nun eindeutig an der Spitze der palästinensischen Politik steht und die Palästinenser glauben, dass die Terroristen trotz der Zerstörung des Gazastreifens die internationale Meinung hinter sich gebracht haben.
Stattdessen haben Biden und die linken Wähler, deren Unterstützung er sucht, die Überzeugung der Hamas bestätigt, dass die Terrorgruppe – und ihr Ziel, Israel zu zerstören und die jüdische Bevölkerung zu töten – von den Angriffen profitieren würde, ganz gleich, was Israel als Reaktion darauf unternimmt. Je mehr Palästinenser in dem von den Terroristen angezettelten Krieg getötet wurden, desto besser für sie. Sie rechneten damit, dass der internationale Druck und die Sympathie für ihre Sache das Entsetzen über die Orgie von Mord, Vergewaltigung, Folter, Entführung und mutwilliger Zerstörung, die ihre „Soldaten“ und andere Palästinenser, die ihnen folgten, begangen hatten, überwiegen würde.
Und genau das ist geschehen.
Jonathan Tobin ist Editor-in-Chief von Jewish News Syndicate (JNS). Auf Englisch zuerst erschienen bei JNS. Übersetzung und Redaktion Audiatur-Online.
Absolut hervorragende Darstellung des Problems, das offensichtlich von Biden weder gelöst werden kann noch gelöst werden will, weil die Fussfesseln seiner Linken ihn daran hindert.