Die Wahrscheinlichkeit einer Ausweitung des Konflikts mit der Hisbollah

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Militärparade von Hisbollah. Foto Twitter/Defapress
Militärparade von Hisbollah. Foto Twitter/Defapress
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Wird sich der „Abnutzungskrieg“, der bereits seit einem halben Jahr an der Nordgrenze Israels andauert, zu einem Grosskonflikt ausweiten?

von Orna Mizrahi und Yoram Schweitzer

Auch wenn die seit dem 8. Oktober andauernden, heftigen Kämpfe an der Nordgrenze Israels einem Abnutzungskrieg ähneln, bleibt eine Frage offen: Wird er zu einem ausgewachsenen Krieg eskalieren, in dem der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah alle ihm zur Verfügung stehenden Waffen einsetzen und die israelische Heimatfront bedrohen wird? Obwohl der Krieg in Bezug auf die betroffenen geografischen Gebiete und die Art der eingesetzten Waffen begrenzt ist, sind Intensität und Schwere der Angriffe eskaliert, ebenso wie die zunehmenden Schäden auf beiden Seiten.

Der Modus Operandi der Hisbollah, der auch die Aktionen anderer libanesischer Akteure beeinflusst und der mit der vom Iran geführten „Achse des Widerstands“ koordiniert wird, zeigt, dass die Organisation darauf abzielt, eine begrenzte Intensität des Konflikts auf niedrigem Niveau beizubehalten. Diese Strategie zielt darauf ab, die IDF an der libanesischen Grenze zu beschäftigen. Die Hisbollah versucht, Israel daran zu hindern, seine erklärten Ziele im Krieg im Gazastreifen zu erreichen und ihn zu beenden.

Eine Analyse des aktuellen Kräfteverhältnisses zeigt, dass die Hisbollah trotz des begrenzten Umfangs des Konflikts auf mehrere Erfolge verweisen kann, die Nasrallah in seinen Reden hervorhebt. Dazu gehören die Bindung von israelischen Kräften an der Nordgrenze, die Beschädigung von IDF-Stellungen und -Stützpunkten, der Abschuss mehrerer israelischer Drohnen, die Zerstörung von Infrastrukturen, zivilen Gebäuden, Wohnhäusern und landwirtschaftlichen Betrieben entlang der Grenze sowie israelische Todesopfer, wenn auch in geringer Zahl – bisher wurden 21 Israelis, darunter 12 Soldaten, getötet. Der grösste Erfolg der Hisbollah war jedoch die Entscheidung der israelischen Regierung, in den ersten Tagen des Krieges 43 Gemeinden entlang der Grenze (rund 60 000 Menschen) zu evakuieren, was dazu führte, dass zum ersten Mal seit 1948 ein nahezu unbewohnter Landstrich im Norden Israels entstand.

Gleichzeitig behält Israel die Eskalationsdominanz und hat aufgrund der Luftüberlegenheit und dem Luftverteidigungsdispositiv der IDF sowie durch Präventivangriffe der Hisbollah und anderen beteiligten Gruppierungen erheblichen Schaden zugefügt. Die IDF hat umfangreiche Angriffe auf Infrastruktur, militärische Einrichtungen, Hauptquartiere und Waffendepots der Hisbollah durchgeführt, darunter mehrere Angriffe tief im libanesischen Nach Angaben der IDF wurden in den letzten sechs Monaten rund 5’000 Ziele im Libanon zerstört sowie zahlreiche Infiltrationsversuche und Raketenabschüsse aus dem nördlichen Nachbarland vereitelt. Die Hisbollah hat erhebliche Verluste erlitten. Nach Angaben der Organisation wurden mehr als 275 Kämpfer getötet, darunter hochrangige Anführer und sieben Mitglieder der Eliteeinheit Radwan sowie mehrere hochrangige Hamas-Mitglieder. Es ist wahrscheinlich, dass die tatsächliche Zahl noch höher liegt. Offenbar haben sich die Mitglieder der Radwan-Truppe aus dem Grenzgebiet zurückgezogen und auch durch die israelischen Luftangriffe in Syrien, die auf Kämpfer und Waffen auf dem Weg vom Iran zur Hisbollah abzielten, Verluste erlitten.

Hinsichtlich der Möglichkeit, dass die Hisbollah die Kämpfe als Teil einer geplanten Strategie oder als opportunistische Reaktion auf die Kämpfe im Gazastreifen eskalieren wird, wird immer deutlicher, dass die Organisation daran nicht interessiert ist. Diese Einschätzung beruht auf den begrenzten militärischen Aktivitäten der Hisbollah und den öffentlichen Erklärungen von Nasrallah und anderen Anführern. Die Faktoren, welche die Hisbollah einschränken, bleiben unverändert. Dazu gehört die Position des Irans, den grössten Teil der Fähigkeiten der Organisation für seine eigenen Zwecke zu vorzubehalten. Darüber hinaus wirken die amerikanische Beteiligung an der Seite Israels und die Sorge vor einem regionalen Krieg zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten ebenfalls abschreckend. Die Hisbollah ist auch besorgt über mögliche Schäden und Verluste sowie über die Auswirkungen auf die ihr loyale schiitische Bevölkerung und den Libanon als Ganzes, sollte es zu einem grossen Krieg kommen. Darüber hinaus ist das Überraschungsmoment aufgrund der Planung und Bereitschaft der IDF an der Nordgrenze und der Evakuierung der israelischen Gemeinden entlang der libanesischen Grenze verloren gegangen. Trotz der Annäherung zwischen der Hisbollah und der Übergangsregierung im Libanon werden die Gegner der Hisbollah im Libanon im Laufe des Krieges immer lauter. Sie argumentieren, die Hisbollah ziehe den Libanon in einen Krieg hinein und gefährde damit den ohnehin schon angeschlagenen Zedernstaat. Der Libanon befindet sich seit vielen Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise, die durch ein politisches Vakuum noch verschärft wurde.

Dennoch ist nicht auszuschliessen, dass ein breit angelegter Krieg ausbricht und möglicherweise zu einem umfassenden Konflikt eskaliert, an dem auch andere Mitglieder der vom Iran unterstützten Achse des Widerstands beteiligt sind. Ein solcher Krieg wäre für alle Beteiligten verheerend und kostspielig. Es gibt zwei Hauptszenarien, die zu diesem Ergebnis führen könnten. Das erste Szenario beruht auf der Gefahr, dass die derzeitige Dynamik der Kämpfe ungewollt zu einer unkontrollierten Eskalation führen könnte. Dies gilt umso mehr, als die Hisbollah die laufenden Kämpfe an der israelisch-libanesischen Grenze mit der israelischen Offensive im Gazastreifen verknüpft. Nasrallah und andere Hisbollah-Vertreter haben wiederholt erklärt, dass sie die Angriffe auf Israel nur dann einstellen werden, wenn Israel seinen Krieg im Gazastreifen beendet.

Das zweite Szenario hängt von der Entscheidung Israels ab, eine umfassendere Operation einzuleiten, um die Sicherheitslage im Norden zu seinen Gunsten zu ändern. Alternativ könnte Israel, sobald der Grossteil der Kämpfe im Gazastreifen beendet ist, der Beseitigung der von der Hisbollah ausgehenden Bedrohung an seiner Nordgrenze Vorrang einräumen oder den evakuierten Israelis aus dringendem Anlass die Rückkehr in ihre Häuser in diesem Gebiet ermöglichen.

Solange die Kämpfe andauern und es keinen Waffenstillstand gibt, ist es für Israel von entscheidender Bedeutung, sich darauf zu konzentrieren, den Schaden für die Hisbollah zu maximieren und ihr die „Spielregeln“ zu diktieren. Gleichzeitig muss Israel einen ständigen Dialog mit der US-Regierung führen, um die Gelegenheit zu nutzen, eine politische Lösung im Einklang mit den mit dem amerikanischen Gesandten Amos Hochstein erörterten Vorschlägen voranzutreiben.

Die Vereinbarung, die derzeit ausgearbeitet wird, sieht eine schrittweise Lösung vor. In der ersten Phase würden die Kämpfe eingestellt, und die Hisbollah würde sich auf Stellungen mehrere Kilometer von der Grenze entfernt zurückziehen. Ausserdem würde die libanesische Seite der Grenze stärker überwacht, um zu verhindern, dass Hisbollah-Aktivisten in das Grenzgebiet zurückkehren, so dass die Bewohner auf beiden Seiten sicher in ihre Häuser zurückkehren können. In der zweiten Phase würden sich die Verhandlungen auf die Umsetzung der UN-Resolution 1701 und die Demarkation der Landgrenze konzentrieren.Die Hisbollah könnte diesem Vorschlag gegenüber im Rahmen einer Waffenruhe in Gaza aufgeschlossen sein. Um das Sicherheitsgefühl der Evakuierten zu erhöhen, sollten darüber hinaus Massnahmen wie die Anpassung des IDF-Einsatzes entlang der Grenze, die Stärkung der Sicherheitselemente in den Gemeinden und die Verbesserung des passiven Schutzes der Bewohner in Betracht gezogen werden.

Angesichts der durch den Gaza-Krieg geschaffenen Bedingungen ist es für Israel derzeit besser, einen grossen Krieg mit der Hisbollah zu vermeiden. Israel sollte alle Versuche, die von der Hisbollah ausgehende Bedrohung zu beseitigen, auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Nichtsdestotrotz bleibt die Gefahr einer gross angelegten Konfrontation mit der Hisbollah bestehen, sollte die direkte Konfrontation zwischen Israel und dem Iran weiter eskalieren.

Orna Mizrahi ist leitende Forscherin und Yoram Schweitzer der Direktor des Program on Terrorism and Low Intensity Conflict am Institute for National Security Studies (INSS). Auf Englisch zuerst erschienen beim INSS. Übersetzung und redaktionelle Kürzung Audiatur-Online.