Anti-Netanjahu-Proteste bedrohen Kriegsziele und Geiselverhandlungen

Die regierungsfeindlichen Demonstrationen, die seit dem 7. Oktober auf kleiner Flamme schwelten, brachen diese Woche mit neuer Heftigkeit aus.

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Während einer Demonstration schwenken Demonstranten ein Plakat mit der hebräischen Aufschrift
Während einer Demonstration schwenken Demonstranten ein Plakat mit der hebräischen Aufschrift "Wunderbares Volk - Scheiss Regierung". Jerusalem, 02.04.2024. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Lesezeit: 7 Minuten

Die Demonstrationen gegen Benjamin Netanjahu sind wieder da, diesmal verbunden mit der Forderung nach der Freilassung der von der Hamas festgehaltenen Geiseln.

von David Isaac

Analysten berichten gegenüber der Nachrichtenagentur JNS, dass die Organisatoren der Proteste, von denen viele wie der frühere Premierminister Ehud Barak hinter den Aktionen gegen die Justizreform standen, davon besessen sind, die Regierung Netanjahu zu Fall zu bringen und damit die Kriegsziele und die Möglichkeit eines Geiselabkommens gefährden.

Seit dem Beginn des Krieges war es um die regierungsfeindlichen Proteste ruhig geworden, bis sie am Samstagabend in Tel Aviv erneut heftig ausbrachen. Schätzungen zufolge kamen Zehntausende. Die Demonstranten blockierten die Ayalon-Autobahn und beschuldigten die Führung des Landes, ein Geiselabkommen absichtlich zu torpedieren.

Einige Familien von Geiseln, die sich am Samstag den Protesten anschlossen, forderten die Mitglieder des Kriegskabinetts, Benny Gantz und Gadi Eizenkot von der Partei der Nationalen Einheit, zum Verlassen der Regierung und zur «sofortigen Ablösung von Premierminister Benjamin Netanjahu» auf.

Die Demonstrationen verlagerten sich am Sonntag nach Jerusalem und wurden am Dienstagabend gewalttätig, als eine Gruppe, die zum Teil Fackeln trug, die Barrikaden umging und Netanjahus Amtssitz belagerte.

Die Polizei erklärte, der Protest sei in «unkontrollierte Unruhen und Strassenkrawalle» ausgeartet, als «hunderte von Randalierern versuchten, die Polizeisperren in der Nähe der Residenz des Premierministers gewaltsam zu durchbrechen.»

Einige Beobachter werteten die Reden auf der Demonstration als «Aufwiegelung». Einav Zangauker, dessen Sohn Matan von der Hamas festgehalten wird, sagte über Netanjahu: «Du bist der Verräter. Du hast dein Volk verraten. Du hast deine Wähler verraten. Du hast den Staat Israel verraten.»

Sie bezeichnete ihn als «Pharao, der uns die Plage der Erstgeborenen auferlegt hat.»

«Wir werden dich weiter jagen. Wir werden das Land niederbrennen, wir werden die Erde erschüttern, du wirst keinen Tag und keine Nacht mehr haben. Solange mein Matan keinen Tag und keine Nacht hat, wirst du auch keine haben», sagte sie.

Nicht um jeden Preis

Efraim Inbar, Präsident des Jerusalem Institute for Strategy and Security, erklärte gegenüber JNS, er habe zwar Mitgefühl mit den Familien der Geiseln, aber die Proteste seien nicht hilfreich.

Zum einen spalte es die Familien der Geiseln, sagte Inbar, der anmerkte, dass «nicht alle gegen Netanjahu oder die Likud-Partei sind.»

Mehrere Familien, die gegen die Proteste sind, haben sich in den israelischen Medien zu Wort gemeldet und ihre Ablehnung zum Ausdruck gebracht. Talik Gueli, dessen 24-jähriger Sohn Ran, ein Polizist, der am 7. Oktober bei der heldenhaften Verteidigung eines Kibbuz entführt und getötet wurde, sagte am Sonntag gegenüber Channel 14: «Ein vierjähriges Kind würde begreifen, dass Wahlen jetzt alles für sechs Monate zum Stillstand bringen würden.»

Inbar vermutete, dass der Zeitpunkt der Proteste mit dem Scheitern der letzten Geiselverhandlungen zusammenhängt. Am 24. März wies der Mossad-Chef David Barnea sein Verhandlungsteam an, Katar zu verlassen, wo die Gespräche stattfanden.

Das Büro des Premierministers erklärte, die Hamas weigere sich, Kompromisse bei ihren extremen Forderungen einzugehen, und bestehe nach wie vor auf «einem sofortigen Ende des Krieges, einem vollständigen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gazastreifen und der Beibehaltung ihrer Regierungsgewalt, damit sie das Massaker vom 7. Oktober immer wieder wiederholen können, wie sie es versprochen hatten».

«Im Grunde genommen liegt es nicht an Netanjahu zu entscheiden, ob die Geiseln freigelassen werden sollen. Die Hamas fordert ein Ende des Krieges, was die meisten Israelis ablehnen», so Inbar.

«Die Forderung, alles zu tun, um die Geiseln freizubekommen, ist nicht klug und entspricht nicht einmal der jüdischen Tradition», fügte er hinzu.

Die Befreiung von Gefangenen ist zwar eine wichtige Mitzwa (religiöses Gebot), aber «nicht um jeden Preis», wie die Demonstranten fordern. «Es gibt andere Werte. Das Wohlergehen des Staates ist auch ein wichtiger Wert», sagte er.

Was die Demonstranten tun, deckt sich mit der Strategie der Hamas, die «volksnah» ist, so Inbar. «Es ist die iranische Denkweise, dass die israelische Gesellschaft schwach ist und sich auflöst, wenn genug Druck auf sie ausgeübt wird. Deshalb zielen sie mit ihren Raketen auf israelische Bevölkerungszentren und nicht auf militärische oder strategische Einrichtungen.»

«Ich glaube nicht, dass die Demonstranten erkennen, welche Auswirkungen diese Art von Demonstrationen haben», fügte er hinzu.

Aktivisten störten am Dienstag das Plenum der Knesset und schlugen mit den Händen, die mit gelber Farbe beschmiert waren – einer Farbe, die mit ihrer Kampagne assoziiert wird – auf die Glaswand der Besuchertribüne ein. Sie riefen «Jetzt, jetzt» und forderten die sofortige Freilassung der Geiseln.

Der neueste Vorwand

IDF-Brigadegeneral a.D. Amir Avivi, Vorsitzender des Israel Defense and Security Forum (IDSF), einer Gruppe, die sich aus Tausenden ehemaliger Sicherheitsoffiziere zusammensetzt, sagte gegenüber JNS: «Das Traurige ist, dass dieses Verhalten die Chance auf eine Freilassung der Geiseln unwahrscheinlicher macht.»

«Wenn unsere Feinde diese Proteste sehen, sagen sie: ‘Warum sollten wir die Geiseln freilassen? Seht doch, was es bewirkt. Sie [die Demonstranten] gewinnen den Krieg für uns. Sie versuchen, die Regierung zu stürzen. Sie versuchen, Israel dazu zu bringen, den Krieg zu verlieren. Wir können die Geiseln genauso gut behalten», so Avivi.

Interne Zwietracht sei gefährlich für Israel, fügte Avivi hinzu und verwies auf die Proteste gegen die Justizreform im vergangenen Jahr als einen der Gründe für den Anschlag vom 7. Oktober. «Es war eine klare Botschaft an unsere Feinde, dass wir schwach sind und dies ein guter Zeitpunkt für einen Angriff ist. Sie sagen es sogar selbst, dass es einen Zusammenhang gibt», sagte er.

Avivi wies die Möglichkeit zurück, dass die Demonstrationen einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung bezüglich des Krieges signalisieren. «Die grosse Mehrheit der Menschen will einen entscheidenden Sieg. Selbst viele der Demonstranten wollen einen entscheidenden Sieg. Sie wollen einfach nicht Netanjahu», sagte Avivi.

Das Geiselthema sei nur der neueste Vorwand, sagte er. «Ob der Vorwand nun der Preis für Hüttenkäse, die Justizreform oder die Rückholung der Geiseln ist – es spielt keine Rolle. Darum geht es nicht wirklich. Im Endeffekt geht es darum, die rechtsgerichtete Regierung loszuwerden.»

Die Aktivisten hoffen, Gräben innerhalb der Regierungskoalition aufzureissen, um interne Streitigkeiten zu schüren. «Sie appellieren sogar an religiös-zionistische Kräfte, die sie noch vor kurzem als Extremisten verteufelt haben, sich gegen die Ultra-Orthodoxen zu stellen, weil sie den Dienst verweigern», sagte Avivi.

Die Koalition erkenne die Proteste als das an, was sie seien, und werde sich Versuchen widersetzen, das Bündnis zu zerschlagen, sagte Avivi. Er prophezeite: «Diese Regierung wird nirgendwo hingehen.»

Ausländisches Geld und linke Ideologie

Moshe Feiglin, Vorsitzender der Zehut-Partei und selbst Organisator von Massendemonstrationen, zunächst gegen die Osloer Abkommen in den 1990er Jahren und später im Jahr 2005 gegen den Rückzug aus dem Gazastreifen, sagte, dass die aktuellen Proteste von zwei Dingen angetrieben werden: ausländischem Geld und progressiver Ideologie. «Es ist eine Kombination aus diesen beiden Faktoren», sagte er gegenüber JNS.

Internationales Geld, hauptsächlich aus Deutschland und den USA – «zumindest vom politisch linken Flügel der USA» – und über alle möglichen NGOs geleitet, ist im Wesentlichen auf «die Zerstörung des Staates Israel» gerichtet.

«Es sind staatliche Gelder, die diesen ganzen Wahnsinn finanzieren», sagte Feiglin. «Dahinter steckt einfach der alte Antisemitismus.»

Zweitens seien die Fusstruppen, die bei den Protesten mitmarschieren, das, was er als «nützliche Idioten» bezeichnet, die von linker Ideologie durchdrungen seien, die das Konzept der Identität ausgelöscht habe, sei es die familiäre Identität, die sexuelle Identität oder sogar die menschliche Identität – die Vorstellung, dass es Unterschiede zwischen Menschen und Tieren gibt. Alles, was übriggeblieben sei, so Feiglin, sei die individuelle Identität und deshalb gehe es nur noch darum, den individuellen Schmerz derjenigen zu lindern, die von der Hamas als Geiseln gehalten werden.

Diese Denkweise habe 2011 zur Freilassung des gefangenen IDF-Soldaten Gilad Shalit im Austausch gegen 1.027 palästinensische Gefangene geführt, von denen viele des mehrfachen Mordes schuldig waren, darunter der Hamas-Führer und Drahtzieher des 7. Oktober, Yahya Sinwar, sagte Feiglin.

Auf die Frage nach den Gefahren, die die Proteste für die Kriegsbemühungen darstellen, gab Feiglin eine überraschende Antwort. Er sagte, dass Israel nicht von Anfang an auf einen entscheidenden Sieg zusteuerte. Während die von Netanjahu gesetzten Ziele gut klingen – die Hamas zu vernichten, die Geiseln freizulassen und sicherzustellen, dass der Gazastreifen nie wieder eine Bedrohung für den Staat Israel darstellt -, bestand Feiglin darauf, dass «wir den Krieg verloren haben, bevor wir ihn begonnen haben, als wir beschlossen, dass das Ziel des Krieges die Eliminierung der Hamas ist.»

«Es ist der so genannte Staat Gaza, den wir selbst mit Oslo und dem Abzug erschaffen haben, der uns angegriffen hat. Sie haben diese Führung gewählt», sagte er.

Feiglins Formel für den Sieg ist die, welche Israel 1948 anwandte. Die Juden müssen in Gaza genauso leben können, wie sie es in anderen Teilen Israels getan haben, sagte er.

«Aus dem Dorf Majdal oder dem Dorf Isdud oder dem Dorf Sheikh Munis kamen keine Mörder und griffen am siebten Oktober jüdische Zivilisten an. Das liegt daran, dass Majdal eine Stadt namens Ashkelon ist. Isdud ist eine Stadt namens Ashdod. Und Sheikh Munis ist eine Stadt, die heute Tel Aviv heisst. Und das ist die einzige Lösung für Frieden und Sicherheit für alle im Nahen Osten», so Feiglin.

David Isaac ist Leitender Korrespondent für Israel bei JNS (Jewish News Syndicate). Übersetzung Audiatur-Online.

1 Kommentar

  1. Ich sehe das auch so, dass die Proteste die Kriegsziele gefährden. Das bringt mich zur Überlegung, wie weit die Proteste, vorsichtig formuliert, beeinflusst werden. Auch in Israel gibt es ein Misstrauen gegen die Regierung. Dabei hat nicht nur der Regierungschef Fehler in der Vergangenheit gemacht. Dennoch erscheinen mir seine Fehler im Vergleich zur dauerhaft beleidigten Regierung in Deutschland oder Frankreich als schmerzhaft aber nicht als Grund für Dauerproteste oder Misstrauen. Insofern stellt sich mir die Frage, wer in der israelischen Linken die Macht und die Möglichkeit hat, derart gegen die Regierung zu hetzen. Und hier sehe ich die NGO´s und natürlich die einflussreiche Zeitung Haaretz. leider habe ich nicht genug Informationen, um deren einfluss und Geldgeber wirklich einschätzen zu können aber ich aber den eindruck, dass hier eine Gefahr liegt. Daher wäre das jewish syndicate eher gefordert, hier kritische Fragen zu stellen und zu beantworten.

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