Antisemitismus-Experte über den neuen Historiker-Streit 2.0

"Die Präzedenzlosigkeit der Schoah wird in Frage gestellt". Stephan Grigat, Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus, hat das neu erschienene Buch "Erinnern als höchste Form des Vergessens?" mitherausgegeben. Er sieht die Singularität von Auschwitz in Gefahr.

0
Die Gleise (Rampe) im ehemaligen Vernichtungslager Auschwittz-Birkenau. Der überwiegende Teil der hier ankommenden Menschen wurden von den Nazis selektiert und unmittelbar darauf in den Gaskammern ermordet. Foto IMAGO / Passage
Die Gleise (Rampe) im ehemaligen Vernichtungslager Auschwittz-Birkenau. Der überwiegende Teil der hier ankommenden Menschen wurden von den Nazis selektiert und unmittelbar darauf in den Gaskammern ermordet. Foto IMAGO / Passage
Lesezeit: 4 Minuten

Aus Sicht des Antisemitismus-Experten Stephan Grigat ist aktuell ein Historiker-Streit 2.0 zu erleben. Mit der Nachrichten-Agentur KNA sprach er über die Grundzüge dieses Streits, die geplante „Palästina-Konferenz“ in Berlin und die Ansichten des Leipziger Buchpreisträgers Omri Boehm zur Europäischen Verständigung. Grigat lehrt als Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und leitet das Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) in Aachen.

von Stefan Meetschen 

Herr Professor Grigat, in Ihrem neuen Buch „Erinnern als höchste Form des Vergessens?“ beschäftigen Sie sich mit der deutschen Gedächtniskultur im Schatten des Holocaust und mit einem neuen Historikerstreit 2.0. Was meinen Sie mit diesem Begriff?

In dem Buch, das ich mit Kollegen von der Gesellschaft für kritische Bildung und der Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung im Verbrecher Verlag herausgegeben habe, thematisieren wir, dass wir derzeit einen neuen Historikerstreit erleben. Anders als in den 80er Jahren, als es eine Art Generalangriff von rechten Historikern auf die Singularität von Auschwitz gab, kommt aktuell der Angriff von linker Seite, von Historikern, die sich selbst als fortschrittlich und emanzipatorisch verstehen.

Was kennzeichnet diesen neuen Angriff?

Die Historiker und Aktivisten, die den Historikerstreit 2.0 begonnen haben, behaupten mit einer ganz spezifischen Intention, es gäbe in Deutschland so etwas wie eine ritualisierte Form der Vergangenheitspolitik – etwas, das auch wir in unserem Buch thematisieren und kritisieren, wenn auch gänzlich anders begründet. Diese Historiker und Aktivisten versuchen, die nationalsozialistischen Massenverbrechen gegenüber den Juden und Jüdinnen in einer Art Gesamtgeschichte des Kolonialismus und Rassismus einzuordnen. Dadurch kommt es zu einer Nivellierung der entscheidenden Unterschiede zwischen Rassismus und Antisemitismus zum einen; zum anderen wird die Präzedenzlosigkeit der Schoah in Frage gestellt.

Was folgt daraus?

Das führt, politisch betrachtet, zu einem Angriff auf Israel und auf den Zionismus. Diese Akteure wissen natürlich, dass Israel kein Staat wie alle anderen ist, sondern der Staat der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen, der auf dieser Präzedenzlosigkeit der Schoah basiert.

Nicht nur von Seiten einiger Historiker wird das Existenzrecht Israels derzeit offenbar in Frage gestellt, sondern auch von Philosophen, wie der jüdischen Gender-Theoretikerin Judith Butler. Was hat es damit auf sich?

Sie reiht sich mit ihrer radikalen, ahistorischen Ablehnung des Staates Israel in eine lange Tradition des Antizionismus ein, wie er auch nach 1945 innerhalb der jüdischen Weltbevölkerung vorkam – wenn auch nur, anders als vor dem Nationalsozialismus, bei einer kleinen Minderheit. Gleichzeitig stellt Butler sich an die Seite von antisemitischen Terrorbanden wie der Hamas oder der Hisbollah, bei denen sie lediglich die von ihnen angewendeten Mittel kritisiert, also den Einsatz von Gewalt, aber explizit nicht ihre Zielsetzung: der Staat Israel soll nicht mehr existieren als ein zionistischer Staat, der als Schutzraum für Jüdinnen und Juden gelten kann. Das halte ich für eine völlig inakzeptable Position. Egal, ob sie von einer Jüdin oder einer Nicht-Jüdin formuliert wird.

Mitte April soll in Berlin eine sogenannte „Palästina-Konferenz“ stattfinden, zu der Gruppierungen erwartet werden, die auch nicht unbedingt als Israel-Freunde gelten. Wie soll man damit in der Bundesrepublik umgehen? Verbieten, tolerieren oder kontrollieren?

Da kommt drauf an, was dort letzten Endes wirklich passieren soll. Das Hauptproblem bei dieser Konferenz ist, dass sich dort wirklich radikale Israelfeinde versammeln: Gruppierungen, die antisemitischen Terror als legitimen Widerstand bezeichnen und offen gutheißen. Wenn das so ist, muss man es unterbinden. Das lässt sich dann auch nicht mehr mit Meinungspluralismus oder Streitkultur verteidigen.

Warum tun sich die deutschen Behörden so schwer beim Umgang mit arabischem Antisemitismus?

Die deutsche Politik, die deutsche Gesellschaft insgesamt tun sich sehr schwer damit. Zum einen aus einem falsch verstandenen Antirassismus heraus, zum anderen spielt hier ein gewisser Kulturrelativismus eine entscheidende Rolle, also die Vorstellung, dass nur Leute aus der Region selbst etwas kritisieren dürfen, was aus dieser Region stammt. Es bräuchte eine emanzipatorische Kritik, eine aufklärerische Kritik am arabischen und islamischen Antisemitismus. Gerade auch, um die Kritik an solchen Zuständen nicht Fremdenfeinden von rechts zu überlassen. Leute, denen es ernsthaft um Aufklärung und Emanzipation geht, müssten sich dieses Themas viel stärker annehmen.

Wie soll die Bundesrepublik mit dem Staat Israel umgehen, solange die Regierung dort rechts und religiös-fundamentalistisch ist?

Im Rahmen der historischen Gegebenheiten sollte sie sich normal positionieren: man sollte sich nicht in die inneren Angelegenheiten von Israel einmischen. Die Solidarität mit Israel bezieht sich nicht auf eine bestimmte Regierung, sondern auf den Staat Israel als Schutzraum für alle vom Antisemitismus Verfolgten. Vor diesem Hintergrund sollte man in Deutschland eher darüber reden, wie sich die Bundesregierung gegenüber dem Holocaustleugner-Regime im Iran verhält.

Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm, der in Leipzig den Buchpreis zur europäischen Verständigung erhalten hat, wünscht sich für Israelis und Palästinenser eine Ein-Staat-Lösung im Geiste Kants zur Sicherung der Würde aller involvierten Menschen. Für wie realistisch halten Sie eine solche Lösung?

Es ist eine schöne Idee – solange man alles ausblendet, was man historisch über die Situation von Juden in islamisch geprägten Gesellschaften weiß. Hier wird im Sinne von Kants Vorstellung vom ewigen Frieden argumentiert. Ich würde eine solche Position als ultraidealistisch bezeichnen. Im besten Fall.

Das klingt sarkastisch.

Das grundlegende Problem an solchen Positionierungen ist, dass sie auf einer zwanghaften Abstraktion von der antisemitischen Bedrohung basieren. Deshalb ist es nicht nur eine ganz sympathisch klingende Idee, sondern es ist eine gefährliche Positionierung. Übrigens hat Boehm sie nicht selbst gebastelt, was er auch gar nicht beansprucht. Das ist eine typische Positionierung von israelischen Antizionisten.

KNA/stm/joh

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.