Hitler, Stalin, meine Eltern und ich

Daniel Finkelstein erzählt das wundersame Überleben seiner Eltern

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Lord Daniel Finkelstein. Foto Screenshot Youtube.com@WaterstonesTV
Lord Daniel Finkelstein. Foto Screenshot Youtube.com@WaterstonesTV
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“Meinst du, die Zuhörer fänden es interessant, dass ich Anne Frank kannte und sie in Bergen-Belsen wiedergesehen habe?”, fragte Miriam Finkelstein ihren Sohn vor ihrem ersten Zeitzeugengespräch.

von Christiane Laudage

Lord Daniel Finkelstein ist ein bekannter Journalist in Grossbritannien. Er sitzt seit 2013 für die konservative Partei im Oberhaus (House of Lords) und ist im Vorstand des Fussballvereins FC Chelsea. Seine Existenz verdankt er nicht nur einem, sondern gleich mehreren Wundern. Denn die Familie seiner Mutter hat den Holocaust in den Niederlanden knapp überlebt, so wie die Familie seines Vaters die stalinistische Verfolgung während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine.

“Was meinen Eltern widerfahren ist, wird mir nicht so leicht widerfahren. Auch nicht meinen Kindern. Aber könnte es passieren? Ja. Auf jeden Fall”, sagt Daniel Finkelstein im Vorwort seines neuen Buches “Hitler, Stalin, meine Eltern und ich”. Er will sein Buch nicht nur als Würdigung seiner Eltern und ihrer schier unglaublichen Überlebensgeschichte verstanden wissen sondern auch als Warnung für die Gegenwart.

In seinem Buch schildert Finkelstein in abwechselnden Kapiteln die Überlebensgeschichte seiner Eltern Miriam Wiener und Ludwig Finkelstein. Er erzählt, “wie die gewaltigen Kräfte der Geschichte als Tsunami über das Leben zweier glücklicher Familien hereinbrachen; wie sie die Menschen erfassten und umherwarfen und die Überreste schliesslich an Land spülten. Es ist eine Geschichte von Einfallsreichtum, grosser Tapferkeit und nahezu unglaublichen Zufällen.”

Die gewaltigen Kräfte der Geschichte, die die Familien Wiener und Finkelstein trafen, waren der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Der Autor stellt erfreut fest, dass das Interesse an der Geschichte seiner Mutter allmählich zunahm und das, was sie erlebt hatte, besser verstanden wurde. Es trifft ihn aber, dass das Gegenteil der Fall sei im Hinblick auf die Geschichte seines Vaters. “Das öffentliche Interesse an den Verbrechen Stalins kam nicht. Es ist nie gekommen. Niemand lud ihn ein, seine Geschichte in Schulen zu erzählen.” 

Zwangsarbeit am Polarkreis

Sein Vater Ludwik war das einzige, langerwartete Kind seiner Eltern Adolf und Lusia Finkelstein, die im damals polnischen Lwow (heute Lwiw, Ukraine) lebten. Adolf Finkelstein setzte sich in der Zwischenkriegszeit dafür ein, dass seine Heimatstadt zu einer modernen, liberalen, multiethnischen Stadt wurde, in der die jüdische Gemeinde einen gleichberechtigten Platz einnahm. Als mit Beginn des Zweiten Weltkriegs das Land Russland zufiel, wurde er zu Zwangsarbeit am Polarkreis verurteilt. Seine Frau Lusia wurde mit dem Sohn auf eine Kolchose in Sibirien verschleppt.

Buchcover “Hitler, Stalin, meine Eltern und ich” von Daniel Finkelstein, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024.

Als die Nazis 1941 die Sowjetunion überfielen, kam die kleine Familie Finkelstein dank einer Amnestie Stalins frei und fand wieder zusammen – abgemagert, erschöpft, aber entgegen allen Erwartungen noch am Leben. Ihre Grossfamilie wurde im Holocaust ausgelöscht.

Miriam Wiener stammte ebenfalls aus einer wohlhabenden, gebildeten jüdischen Familie, die sich in erster Linie als deutsch sah. Ihr Vater Alfred Wiener, Gründer des weltweit ersten Holocaust-Archivs, war nach Einschätzung von Daniel Finkelstein weitsichtiger als alle anderen. Er erkannte sehr früh die Gefahr, die von den Nazis bereits während der Weimarer Republik ausging, und versuchte aufzuklären.

Die Familie emigrierte kurz nach der Machtergreifung in die Niederlande, weil sie hoffte, dort vor den Nazis sicher zu sein – so wie die Familie von Anne Frank. Das war nicht der Fall. Als Alfred Wiener sein Archiv nach London geschafft und endlich die Papiere für seine Frau und die drei Töchter zusammen hatte, waren die Nazis in die Niederlande einmarschiert. 

Grete Wiener und die Töchter kamen erst in das Sammellager Westerbork, dann in das KZ Bergen-Belsen. Wie sie es schafften, zu überleben? Durch Zufall und Glück, denn die Familie bekam über die Lados-Gruppe Pässe für Paraguay. Zu der in der Schweiz ansässigen Lados-Gruppe gehörten polnische Diplomaten, die illegale Reisepässe für Lateinamerika ausstellten und so Menschen retten konnten. 

Seine Eltern haben offen über ihre Erlebnisse im Krieg gesprochen. “Meine Eltern waren liebenswerte Menschen mit einem feinen Sinn für Humor und einer sehr optimistischen Einstellung. Sie vertraten die Ansicht, dass fast nichts so schlimm sein konnte, wie das, was sie erlebt hatten, und hatten daher ein sehr gutes Augenmass”, sagte er 2021 in einem Interview.

In seinem Buch würdigt Finkelstein seine Mutter, die seiner Meinung nach “den grössten Anteil daran hatte, dass unsere Familie im modernen Grossbritannien Wurzeln schlug.” Sie habe ihren Kindern ein Familienleben und eine glückliche Kindheit gegeben, die sie selbst nie hatte erleben können. “Unsere Familie hat überlebt. Die Liebe hat den Hass besiegt. Im Kampf gegen Hitler und Stalin gehört der Sieg Mum und Dad.”

Daniel Finkelstein, Hitler, Stalin, meine Eltern und ich. Eine unwahrscheinliche Überlebensgeschichte, aus dem Englischen von Barbara Schaden, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024, 528 Seiten, 28 Euro.

KNA/lau/cdt

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