Ein Beduinenstamm Israels im Wechselbad der Oktober-Ereignisse

„Wir Israelis müssen jetzt zusammenhalten!“

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Mitglieder des beduinisch-muslimischen Stammes al Ziadne. Foto Antje C. Naujoks
Mitglieder des beduinisch-muslimischen Stammes al Ziadne. Foto Antje C. Naujoks
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Der beduinisch-muslimische Stamm al Ziadne ist schwer gezeichnet vom Hamas-Überfall am 7.Oktober. Die Angehörigen blicken auf einen Ermordeten sowie auf Entführte, aber auch auf Helden und soziale Aktivisten, die jetzt erst recht die Ärmel hochkrempelten.

In der Negev-Wüste, die 60 Prozent des israelischen Territoriums ausmacht, leben 1,3 Millionen Einwohner. Bei zirka 300.000 handelt es sich um beduinische Muslimen, die zu der fast 22 Prozent zählenden arabischen Minderheit Israels gehören, aber eine eigene Kultur und besondere Traditionen pflegen. Schon unter den Osmanen wurde die einstigen Badawī, die Nomaden dieser Wüstenregion, zu Halbnomaden. Inzwischen lebt die Mehrheit der Negev-Beduinen seit Jahrzehnten in urbanen Zentren mit entsprechenden Infrastrukturen und Dienstleistungen.

Dennoch leben rund 80.000 Beduinen weiterhin versprengt in den Negev-Weiten oder in Reichweite von Dörfern, ohne jedoch daran angeschlossen zu sein. Dazu gehören auch die rund 5.000 Angehörigen des Stammes al Ziadne, die aus ihrer Sicht eine Grossfamilie sind; schliesslich sind viele durch Eheschliessungen unter Cousins und Cousinen miteinander verwandt.

Gegenwärtig achten al-Ziadne-Angehörige darauf, dass ihre Mobiltelefone aufgeladen sind. Das ist gar nicht so einfach, denn kein einziger Haushalt dieses Stammes ist an das Stromnetz angeschlossen. Solartechnologie und Arbeitsplatz ermöglichen es dennoch, dass jeder auf dem Laufenden bleiben kann, was den 53-jährigen Yousef und seinen Sohn Hamza angeht. Alle bangen um diese beiden Männer, die nicht wie zwei minderjährige Familienmitglieder aus der Hamas-Geiselhaft freikamen. Doch diesen Stamm beschäftigen noch viel mehr Folgen, die der 7. Oktober brachte.

Tödliche Schüsse

Der frühe Morgen versprach schönes Wetter. Daher zog es am 7. Oktober etliche Israelis an den Zikim-Strand, der nur wenige Kilometer vom nördlichen Gazastreifen entfernt ist. Frühsport, Surfen und Angeln stand auf dem Programm. Die morgendliche Ruhe wurde nicht nur von motorisierten Gleitfliegern gestört. Die Hamas-Terroristen kamen auch übers Meer. Die israelische Marine konnte nicht alle Boote zerstören, so dass auch in Zikim etliche Hamas-Terroristen an Land gingen. Einer der ersten, auf den sie trafen, war Abdul al-Ziadne, der sich eine Auszeit von Fabrikjob und Planung seiner Hochzeit genommen hatte. Der 29-Jährige campte am Strand, da er schon im Morgengrauen fischen wollte.

Tagelang blieb die Familie in Ungewissheit über sein Schicksal. Es dauerte lange, bis sich Israels Behörden daranmachten, die 16 Leichen des Blutbades an diesem Strand zu bergen. Darunter war Abdul al Ziadne, der einer von insgesamt über 20 ermordeten Beduinen ist.

Ohne zu überlegen

Im Wohnort der al Ziadne bei Rahat, die mit 80.000 Einwohnern einzige beduinische Stadt Israels, klingelte nach Beginn der Raketenangriffe das Telefon eines als Minibusfahrer arbeitenden Stammesmitgliedes. An Vortag hatte der 48-jährige Yousef mehrere junge Israelis zu einem Musikfestival im Süden gefahren und mit ihnen vereinbart, sie am Shabbat-Nachmittag wieder abzuholen. Doch riefen sie am frühen Morgen an. Wegen des Raketenbeschusses müsse er sofort kommen.

Yousef, der sich wegen der Raketen um seine Familie sorgte, weil es in seinem vom Staat Israel nicht anerkannten Wohnort keinen einzigen Schutzraum gibt, preschte dennoch ohne zu überlegen los. In einem Interview meinte er, dass irgendwann nicht mehr nur Raketen über ihn wegpfiffen, sondern er zudem das Rattern automatischer Waffen hörte. Fliehende warnten ihn, nicht weiterzufahren. „Ich sah mich dem Tod nahe, aber ich war doch verpflichtet, bei den auf mich wartenden Menschen anzukommen“, meinte er.

Rettung Querfeldein, die Drohungen brachte

Somit fuhr er dennoch zum Kibbuz Re´im, wo er seine Fahrgäste tatsächlich einsammeln konnte. Doch nicht nur sie nahm er mit. In seinen 14-Sitzer quetschte er 24 junge Leute, die sich dorthin hatten retten können. Da jeden Augenblick auch hier Hamas-Terroristen aufzutauchen drohten, drückte Yousef erneut das Gaspedal durch. Er kennt nicht nur die Region, sondern auch das Gelände. Deshalb verliess er die Strasse und fuhr querfeldein. Unterwegs sammelte er mehrere Verletzte ein. Er fuhr gut 50 Kilometer landeinwärts Richtung Süden bis zum beduinischen Dorf Bir Hadja, von alle versorgt wurden. Ihm verdanken über 30 junge Leute ihr Leben.

Als er wieder Zuhause war, kam er zum Nachdenken. Für ihn ist klar, er hat das Richtige getan. „Wir sind alle Bürger eines Staates, ich musste den Menschen einfach helfen.“ Doch schon bald erreichte ihn auf seinem Mobiltelefon eine Drohung. Dem Absender gefiel nicht, dass er „Juden gerettet hat“. Yousef ringt schwer mit den Ereignissen, die sich tief in seine Seele eingebrannt haben, auch wenn er dankbar ist, dass er mit dem Leben davonkam. Zu Überleben war nicht allen aus dem Kreis der beduinischen Gemeinschaft vergönnt, die Rettungsaktionen unternahmen.

Albtraum Geiselhaft

Den Stamm al Ziadne hält zudem in Atem, dass vier Angehörige in den Gazastreifen verschleppt wurden: der eingangs erwähnte Yousef mit drei seiner Kinder, die er mit einer seiner zwei Ehefrauen hat. Der 18-jährige Bilal und die 17 Jahre alte Aisha kamen am 30. November frei. Vater und Bruder der Geschwister sind, ebenso wie drei weitere israelische Beduinen, noch immer in Geiselhaft.

Lebensmittelpakete für bedürftige Beduinen. Foto Antje C. Naujoks

Yousef arbeitete zusammen mit seinen Söhnen im Kibbuz Cholit, im südlichen Abschnitt der Gaza-Grenzregion. Seine Schicht im Kuhstall, der sich Tochter Aisha angeschlossen hatte, sollte um 8.00 morgens enden. Zu dem Zeitpunkt waren alle vier bereits in der Gewalt der Hamas-Terroristen, die sich wenig darum scherten, dass ihre Geiseln muslimische Araber sind und darunter sogar ein minderjähriges Mädchen ist.

Auch im Fall dieser vier israelischen Bürger hatten die Behörden lange keine Antwort zu deren Verbleib. Doch auch als klar war, dass sie zwar leben, aber entführt wurden, sah man ihre Fotos nicht in den Nachrichten, so wie die der anderen verschleppten Personen. Die jüdische Gesellschaft ebenso wie die betroffenen Familien hatten sich schnell organisiert. Wer wäre schon auf die Idee bekommen, dass Muslime muslimische Glaubensbrüder ermorden und zudem als Geiseln nehmen? Irgendwann begannen die hebräischsprachigen Medien dann doch über arabische Bürger zu berichten, die ermordet oder verletzt wurden; darunter eine hochschwangere Beduinin, der mit Absicht in den Bauch schossen wurde, die gerettet werden konnte, aber für deren Ungeborenes jede Hilfe zu spät kam. Dann wurde immer mehr über arabische Retter berichtet. Erst sehr spät wandte sich die Aufmerksamkeit den arabisch-israelischen Geiseln zu.

Anfangs sah man dennoch nicht die Fotos der beduinischen Geiseln, hörte nicht die Stimme der Familienangehörigen. Die beduinische Gesellschaft ist sehr konservativ. Ein Foto von Aisha, von einer Frau, zu veröffentlichen, kam nicht in Frage. Die betroffenen Beduinen fanden sich schlichtweg nicht in dem Medienrummel wieder. Obwohl sie inzwischen in die privaten Befreiungsbemühungen wie auch in die Betreuung der staatlichen Stellen eingebunden sind, halten sie sich trotzdem weiterhin abseits. Sie gehen damit anders um, bleiben privater und zurückgezogener, suchen eher die Hilfe ihrer Scheichs und Imame.

Freude und Sorge zugleich

In einem persönlichen Gespräch mit dem 41-jährigen sechsfachen Familienvater Foad al Ziadne, den die Autorin durch gemeinsame Aktivitäten zugunsten von Kindern kennt, kam die Sprache nur kurz auf Bilal und Aisha. Es war von vornherein klar, dass man einige Fragen gar nicht zu stellen braucht. Ob Aisha wie geplant ihren Cousin heiraten wird, ist Stammessache, mit Aussenstehenden wird darüber nicht geredet. Dennoch verriet Foad: „Ja, sie sind die ganze Zeit zusammen gewesen“, hielt sich ansonsten aber bedeckt, um seinen noch in Geiselhaft befindlichen Onkel und dessen Sohn nicht zu gefährden.

Vielmehr kam der langjährige Leiter des Gemeindezentrums in Rahat auf die Gesundheitslage seines Onkels zu sprechen. „Wir sind überglücklich, dass Bilal und Aisha zurück sind. Nach drei Tagen im Soroka-Klinikum in Be´er Sheva sind sie wieder bei uns. Aber wir machen uns Sorgen, um meinen Onkel, denn er ist Diabetiker.“ Dass die muslimischen Geiseln ebenso wie ausländischen Gastarbeiter aus Fernostasien von den Hamas-Terroristen etwas besser behandelt wurden als jüdisch-israelische Geiseln bringt für ihn keinen Hoffnungsschimmer. Auch er ist der Ansicht, dass mit jedem verstreichenden Tag, die Wahrscheinlichkeit schindet, die verschleppten Angehörigen lebend in die Arme schliessen zu können. So wie viele andere, ist auch er zudem in Sorge, dass die Kriegshandlungen zusätzliche Gefahren für die Geiseln bringen.

„Wir lassen uns nicht unterkriegen!“

Der Schweizer Botschafter in Israel, Urs Bucher, mit Foad al Ziadne. Foto Antje C. Naujoks

Foad al Ziadne wurde nur wenige Tage nach dem 7.Oktober aktiv. Er musste einfach etwas machen, denn ihm war klar, dass gerade die sozioökonomisch geschwächte beduinische Gesellschaft schwer unter den Folgen der Ereignisse leiden wird. Er wandelte sein Gemeindezentrum in einen sogenannten „War Room“ um, rief zu Spenden auf und organisierte unzählige Helfer, die Lebensmittelpakete für bedürftige Beduinen packten.

Doch das war ihm nicht genug. Für ihn ist klar, alle Israelis, egal ob arabisch oder jüdisch, von der Notlage betroffen sind. „Wir leben zusammen. Bei den Ereignissen sind wir Seite an Seite gestorben“, meinte er in dem Gespräch. Also setzte er sich dafür ein, dass sich mehr beduinische Organisationen und dann auch weitere NGOs beteiligen, die sich für jüdisch-arabische Koexistenz einsetzen. Aus der von Beduinen für Beduinen ausgerichteten Hilfsaktion wurde die inzwischen nicht nur in Israel, sondern auch im Ausland Schlagzeilen machende Initiative „Schicksalspartner“. Arabische und jüdische Israelis packen mit vereinten Kräften Lebensmittelpakte, die an alle Sektoren der israelischen Gesellschaft ausgegeben werden.

Im Laufe des Gespräches mit Foad al Ziadne wurde deutlich, wie sehr er enttäuscht ist, dass die israelischen Regierungen seit 2021 nicht mit der Umsetzung der Anerkennung seines und anderer beduinischer Dörfer vorankommen sind. Doch zugleich glaubt er auch, dass der 7.Oktober noch sehr viel mehr in Israel verändert hat, als man auf den ersten Blick entdecken kann. Inzwischen sind die ersten Schutzräume bei versprengt lebenden Beduinen eingetroffen. Regierungsangehörige, die sich ansonsten selten in Rahat sehen lassen, kamen in Scharen. „Sehr viel mehr Israelis ist klar geworden, dass wir – einerlei ob Araber oder Juden – zusammenhalten müssen.“

Über Antje C. Naujoks

Antje C. Naujoks lebt seit fast 40 Jahren in Israel, wo sie ihr an der FU Berlin aufgenommenen Studium im Bereich der Politikwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem abschloss. Nach langjähriger wissenschaftlicher Tätigkeit ist sie seit Jahrzehnten für die Öffentlichkeitsarbeit einer israelischen NGO verantwortlich, darüber hinaus aber weiterhin auch als Übersetzerin und Autorin tätig.

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1 Kommentar

  1. Ein wirklich guter Artikel – und ein sehr wichtiger, weil er, was in diesem Forum nur selten vorkommt, auch einmal die Situation arabischer Israelis beleuchtet und dabei auch zeigt, dass viele von diesen trotz eines gewissen Verharrens in alten Stammesstrukturen und latenter Benachteiligung durch den Staat Israel sich mit diesem identifizieren.

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