Juden in Deutschland sind auch in ihrem unmittelbaren Umfeld massiv gestiegenem Antisemitismus ausgesetzt. Ein neuer Bericht legt jetzt Zahlen vor. Diese seien “erschreckend”, so der Zentralrat der Juden.
von Leticia Witte und Norbert Demuth
Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober ist in Deutschland die Zahl judenfeindlicher Vorfälle drastisch gestiegen. 29 antisemitische Vorfälle pro Tag und ein Anstieg von 320 Prozent – das ist das Ergebnis eines neuen Berichtes. Bis zum 9. November registrierte der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) bundesweit 994 Vorfälle mit Bezug zu den Hamas-Massakern, wie aus dem am Dienstag in Berlin veröffentlichten Bericht hervorgeht. Der Zentralrat der Juden in Deutschland nannte die massive Zunahme “erschreckend”.
Laut Bericht waren es durchschnittlich 29 Vorfälle pro Tag. Es handele sich um einen Anstieg von 320 Prozent zum Jahresdurchschnitt von 7 Vorfällen am Tag im Jahr 2022. Mehrheitlich lag verletzendes Verhalten (854 Fälle) vor. Registriert wurden unter anderem auch 32 Bedrohungen, 29 Angriffe und 3 Fälle von extremer Gewalt, die nach Definition von Rias den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können oder auch den Versuch zu solchen Taten darstellen.
“Ein solcher Fall ereignete sich am 18. Oktober in Berlin, als zwei Brandsätze auf ein jüdisches Gemeindezentrum geworfen wurden, in dem neben einer Synagoge auch eine Schule und eine Kita untergebracht sind”, hieß es.
In 63 Prozent aller Fälle war der politische Hintergrund laut Bericht unbekannt. 21 Prozent wurden dem antiisraelischen Aktivismus zugeordnet, 6 hatten einen islamisch/islamistischen Hintergrund. 5 Prozent wurden als links/antiimperialistisch klassifiziert. Je knapp 2 Prozent hatten einen rechtsextremen und verschwörungsideologischen Hintergrund. In 1 Prozent wurden Vorfälle der politischen Mitte zugeordnet und weniger als 1 Prozent einem christlichen/fundamentalistische Spektrum.
Im Auswertungszeitraum wurden laut Bericht 177 antisemitische Versammlungen erfasst. Den Meldestellen des Verbandes werden auch Ereignisse gemeldet, die keine Straftaten sind. Berichtet werde vermehrt von Vorfällen an Orten des Alltags wie Nachbarschaft, Arbeitsplatz und Hochschulen.
“Besonders verunsichernd sind Vorfälle im Wohnumfeld”, so Rias. Gemeldet worden seien 59 solcher Vorfälle. Der Verband nannte ein Beispiel: “In Gießen drangen zwei Männer gewaltsam in die Wohnung eines Israelis ein, um eine aus dem Fenster gehängte Israelflagge zu entfernen.”
Vermehrt werde an Hochschulen antiisraelische Propaganda verbreitet: Schmierereien, Versammlungen und Flyer. Insgesamt wurden laut Rias 37 antisemitische Vorfälle an Hochschulen dokumentiert.
“Wenn jüdische Studierende dem Campus aus Sorge vor antisemitischen Erfahrungen fernbleiben, sind ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen, aber auch die Hochschulleitungen und organisierten Studierendenschaften in der Pflicht, mit aller Konsequenz gegen Antisemitismus vorzugehen”, forderte der Geschäftsführer des Rias-Bundesverbandes, Benjamin Steinitz.
Zentralratspräsident Josef Schuster sagte der “Welt” (Dienstag online): “Dass gerade Orte wie Universitäten, die sich für besonders zivilisiert halten, teilweise zu No-Go-Areas für Jüdinnen und Juden werden, gibt ein trauriges Bild ab.” Die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, Hanna Veiler, nannte die Zahlen erschreckend – aber nicht verwunderlich.
Der Rias-Bundesverband ist der Dachverband seiner Meldestellen in mehreren Bundesländern. Wer Antisemitismus erlebt oder Zeugin beziehungsweise Zeuge wird, kann sich an diese Stellen wenden. In den Bericht flossen den Angaben zufolge Vorfälle aus dem ganzen Bundesgebiet und von Meldestellen in elf Bundesländern ein.
Das Bundeskriminalamt hatte seit dem Terrorangriff bis Mitte November bundesweit rund 3.300 Straftaten mit Bezug zum Nahost-Konflikt erfasst.
Schuster rief zu entschiedenem Handeln gegen Judenhass auf: “Der Weg eines durchsetzungsfähigen, wehrhaften Rechtsstaates muss weiter vehement beschritten werden.” Schuster fügte hinzu: “An einigen wichtigen Stellschrauben wurde bereits gedreht, aber mir fehlt der geeinte Ansatz gegen Israelfeindlichkeit und Judenhass auf deutschen Straßen.”
KNA/lwi/dmu/joh/Aud