Zwar gerettet, aber gestrandet im eigenen Land

„Ich will endlich wieder ein Zuhause!“

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Sharon Segal-Nir. Foto zVg
Sharon Segal-Nir. Foto zVg
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Sharon Segal-Nir, die zusammen mit ihrer Familie den Angriff der Hamas-Terroristen im Kibbuz Mefalsim überlebte, blickt auf die letzten Wochen zurück, die von unglaublich grossem Seelenschmerz gezeichnet sind.

Seit dem Überfall der Hamas-Terroristen auf Israels Süden am 7. Oktober ist Frau Sharon Segal-Nir erst zum dritten Mal wieder an einem Ort, den sie über alles liebt: in der Ballett- und Tanzschule Bat-Dor, die sie selbst jahrelang besuchte und für deren professionelle Tanzgruppe Kamea sie seit etlichen Jahren als Verkaufsleiterin arbeitet. Die zierliche Frau strahlt auch weiterhin die für sie übliche Energie aus, doch irgendetwas in ihr scheint zugleich erloschen.

Mit ihr durch die Flure gehend, kommen wir immer wieder minutenlang zum Stehen. Team- und Tanzgruppenmitglieder, die sie seit Wochen nicht gesehen haben, müssen sie einfach ganz lange und innig umarmen.

Frau Segal-Nir wie kommen Sie mit der Situation zurecht?

Mein Leben steht Kopf, nichts ist mehr so wie es einmal war, gar nichts. Das gilt auch für meinen Arbeitsplatz. Meine Tanzgruppe Kamea ist um ein Drittel geschrumpft, weil alle ausländischen Tänzerinnen und Tänzer das Land verlassen haben. Unsere grosse China-Tour konnten wir nicht antreten. Es zerreisst mir das Herz zu sehen, dass Künstler, die sich monatelang etwas schwer erarbeiteten, kein Publikum haben. Im Land treten wir nicht auf, denn kaum jemand steht gerade der Sinn danach, Karten im Voraus zu buchen; wir wissen ja nicht, was Morgen sein wird.

Hier in Be´er Sheva unterliegen wir weiterhin Auflagen des Heimatschutzkommandos, so dass wir keinen grösseren Saal füllen dürfen. Aber nachher findet eine Aufführung in einem unserer Studios statt, nur für einige Eltern von Tanzschülern und Nachbarn. Wir wollen die Moral etwas heben. Sie sind auch eingeladen.

Das dürfte nur eine Seite der Herausforderungen sein, mit denen Sie gerade konfrontiert sind. Ein Teil Ihres Lebens ist die Gemeinschaft des Kibbuz Mefalsim. Wie erging es Ihrem Kibbuz seit dem „Schwarzen Shabbat“?

Anfangs waren wir im ganzen Land zerstreut, doch nach knapp einer Woche arrangierte die Regierung eine gemeinsame Unterkunft für uns in einem Hotel in Herzlija. Einige Kibbuz-Mitglieder, vorwiegend ältere Leute, entschieden sich dafür, lieber bei ihren Kindern zu bleiben. Ich kann sie verstehen, denn wir alle leiden sehr. Ein Sternehotel mag ja ganz nett für einen Urlaub sein, aber ich lebe nun schon seit sechs Wochen in einem winzigen Zimmer zusammen mit meinem Ehemann und meinen beiden erwachsenen Söhnen, die 21 und 18 Jahre alt sind. Das ist schlimmer als auf Tour zu sein und aus den Koffern zu leben, abgesehen davon, dass wir gar keine Koffer haben. Alles was wir besitzen sind gespendete Kleidungsstücke, die wir irgendwie zu verstauen versuchen.

Die Kibbuz-Gemeinschaft ist auch im Hotel aktiv. Einige haben sofort eine Krabbelgruppe und die Betreuung für Kinder im Kindergartenalter organisiert. Das ist unglaublich toll, wie gut die Gemeinschaft funktioniert, aber es mangelt an Privatsphäre. Wie wir alle, so trauert auch meine Familie. Da bräuchte man gerade auch nachts mal eine stille Ecke für sich.

Darf ich Sie fragen, um wen sie trauern?

Die Schwester und der Schwager meines Mannes wurden im Kibbuz Nativ HaAsara ermordet. Gott sei Dank sind mein Bruder und seine Familie, die ebenfalls in dem Kibbuz leben, am Leben. Wir alle haben viele, viele Freunde verloren; für Kibbuzniks sind Freunde wie Familienmitglieder. Ich glaube, dass es am schlimmsten für meine Söhne ist. Sie besuchten die Regionalschule unserer Regionalverwaltung Sha´ar HaNegev, kennen ganze Jahrgänge aus vielen Kibbuzim. Sie haben noch gar nicht verinnerlicht, wer zukünftig bei Zusammenkünften, Aufführungen und Fussballturnieren fehlen wird.

Zudem sind da die unglaublich schlimmen Geschichten, auf welch grausame Weise Menschen, die man kennt, das Leben genommen wurde. Ich kann nicht darüber reden, will nicht darüber reden, es tut zu weh. Es ist wie ein nicht enden wollender Horrorfilm. Und doch: Wir leben, sind dankbar dafür und fühlen uns zugleich auch schuldig deshalb.

Es ist der 49-Jährigen anzusehen, dass es sie innerlich zerreisst, ihr tatsächlich Horrorfilme durch den Kopf gehen und sie vor ihrem geistigen Auge Gesichter und Schreckensszenarien sieht. Dennoch kommt sie von selbst auf die angsterfülltesten Stunden ihres Lebens zu sprechen.

Familienfoto: Sharon und Ehemann Assaf, sowie die Söhne, links Maayan (der jüngere Sohn), rechts Gali (der ältere Sohn). Foto zVg

Wissen Sie, wenn man sein ganzes Leben in der Grenznähe zum Gazastreifen verbracht hat, kann man alle Geräusche deuten. Man weiss, ob ein Mörser oder eine Rakete abgefeuert wurde, ob uns ein Abschuss noch in der Luft gelungen ist, oder auf welcher Seite der Grenze eine militärische Übung stattfindet. An dem Shabbat-Morgen wussten wir alleine wegen der Geräusche, dass sich etwas anderes abspielt. Als bei uns Raketenalarm gegeben wurde, ging mir durch den Kopf: Habe ich es doch gewusst, ausgerechnet jetzt. Sie müssen wissen, unser Haus wird gerade renoviert. Wir haben alles im Schutzraum eingelagert, weshalb ich schon vor Wochen zu meinem Mann sagte, dass mir das ganz und gar nicht gefällt. Unsere Söhne hatten wir für die Zeit der Bauarbeiten bei unserer Nachbarin einquartiert. Dorthin sind mein Mann und ich gerannt, so schnell wir konnten. In diesem Schutzraum sassen wir dann fast zwölf Stunden lang fest, unsere Nachbarin, mein Mann, unsere zwei Söhne und ich.

Wir hatten fast sofort keinen Strom mehr. Selten gab es Mobilfunkempfang. Wie ich schon sagte, die Geräusche verhiessen, dass sich draussen etwas Ungewöhnliches abspielt, doch wir hatten nicht die leiseste Ahnung, was das war. Als wir einmal wieder Mobilnetz hatten, erfuhren wir, dass Ofir Libstein ermordet wurde. Der Landrat unserer Regionalverwaltung ermordet? Da schwante uns, dass es noch viel schlimmer ist, als wir befürchteten.

Irgendwann erfuhren wir, dass unsere Bereitschaft Dutzende Terroristen abwehren konnte. Das haben wir nur einer Entscheidung unseres Kibbuz-Mitgliedes zu verdanken, der als Zivilist die Position des Verbindungsoffiziers zur Armee wahrnimmt. Als die Armee vor mehreren Monaten entschied, dass die Waffen der Bereitschaft nicht mehr in Privathand bleiben dürfen, sondern im Waffendepot zu lagern sind, entschied er, dass es so etwas in seinem Kibbuz nicht gibt. In anderen Kibbuzim wurden die Angehörigen der Bereitschaften erschossen, noch bevor sie an ihre Waffen gelangen konnten. Bei uns hatten alle ihre Waffe parat. Dass wir am Leben sind, haben wir diesem Mann und seiner eigenmächtigen Entscheidung zu verdanken sowie vielen kleinen Wundern, die sich aneinanderreihten. Es waren an dem Wochenende besonders viele junge Männer zu Besuch, die gerade ihren Wehrdienst leisten. Sie haben unsere Bereitschaft unterstützt. Doch Glück hatten wir auch, wenn ich an unser Zufahrtstor denke. Die Terroristen versuchten, das Tor zu sprengen, doch anstatt es in Bewegung zu setzen, blockierte die Explosion das Tor. Als die Hamasniks zu Fuss weiterkommen wollten, gelang es unserer Bereitschaft, die sich gut positioniert hatte, alle auszuschalten. Daher kam es in Mefalsim nicht zu einem Massaker.

Sie haben mir erzählt, dass Sie das erst viel später erfahren haben. Wie ging es für Sie an dem Tag weiter?

Je mehr Stunden verstrichen, desto mehr Angst kam in uns auf. Wir waren überzeugt, dass schon bald die Armee eintreffen wurde, doch niemand kam. Wir blieben ganz auf uns selbst gestellt. Noch jetzt fühle ich mich von unserer Armee verraten. Wir hatten vor allem Angst vor der Nacht und mit meiner Schwester und ihrer Familie, die ebenso wie meine Mutter gleich um die Ecke wohnen und zu denen wir sporadisch Kontakt hatten, vereinbart, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit zu fliehen versuchen. Irgendwann kam mein Schwager mit einem grossen Küchenmesser in der Hand angerannt und brüllte, dass wir sofort losfahren müssen. Jetzt oder nie, denn er hatte ein Zeitfenster von wenigen Minuten mit der Bereitschaft vereinbart, um aus dem Kibbuz herauszukommen und meine Mutter bereits eingesammelt. Die Jungs fragten noch, was sie mitnehmen sollen. Ich erinnere mich, dass ich schrie: „Irgendwas, egal, nichts, wir müssen los.“ In Trainingsanzügen und Pyjamas sind wir zum Auto und fuhren los.

Keiner von uns war vor auf das vorbereitet, was wir auf der Hauptstrasse sahen. Wir waren auf einige Leichen von Terroristen vorbereitet, aber nicht auf Leichen über Leichen überall, auf zerschossene und ausgebrannte Autos. Ich hätte meinen Söhnen diesen Anblick gerne erspart.

Während dieses Teils des Interviews stehen Frau Segal-Nir die ganze Zeit über Tränen in den Augen. Doch es kullert keine einzige Träne. Das passt zu dem, was sie zuvor erzählte. Ihr Mann sei vor Trauer vollkommen neben sich, ihre Söhne seien zerrrissen zwischen Trauer um Freunde und Sorge um die in den Gazastreifen Entführten, aber auch Fragezeichen, wie ihre Zukunft aussehen wird. Es sei wie ein fortgesetzter Zerfall, der auch ihre gesamte Familie ergriffen hat, so dass sie meinte: „Ich muss wohl diejenige sein, die alles zusammenhält.“

Nach vorne blickend berichtete sie, dass sie nicht weiss, ob sie nach Mefalsim zurückkehren möchte. Zunächst wird ihr Mann dorthin fahren müssen, denn jetzt, da es kalt wird, möchte sie ihre eigene Winterkleidung haben. Was aus dem Haus wird, ist ihr gegenwärtig egal. Sie versucht andere Aspekte in den Vordergrund zu rücken und berichtet gleich darauf stolz, dass ihr ältester Sohn sich auf ihren Rat hin bei einem Kolleg im Zentrum des Landes beworben hat. „Nutze die Zeit, sagte ich ihm, mach etwas, das in unserer Kibbuz-Peripherie nicht so einfach möglich wäre. Jetzt hat er tatsächlich einen Studienplatz bekommen und kam gestern zum ersten Mal wieder glücklich ins Hotel zurück.“

Nach dem Gespräch haben wir uns die Tanzaufführung angesehen. Wir haben es genossen, eine kurze Weile der Abwechselung. Doch ausgerechnet dann flossen Tränen. Vor dem Abschied darüber redend, wurde uns klar, dass wir seit langer Zeit keine Musik mehr zum Vergnügen gehört haben. „Wie wichtig doch Kultur ist“, meinte Frau Segal-Nir nachdenklich, „selbst in den dunkelsten Zeiten. Erst bei dieser Aufführung habe ich wirklich emotional begriffen, was Überlebende der Shoa erzählten, die selbst in den Vernichtungslagern an Literatur, an Kunst und Musik festhielten“, meinte diese Enkelin einer Familie mit deutschen Wurzeln, die in der Shoa Angehörige verlor.

Die Regionalverwaltung Sha´ar HaNegev

Diese Regionalverwaltung hat rund 25 Kilometern Grenzverlauf zum Gazastreifen. Sie zählt zehn Kibbuzim und zwei landwirtschaftlich geprägte Dörfer mit insgesamt etwas mehr als 9.000 Einwohnern. In den Kibbuzim Kfar Aza und Nahal Oz fanden grausamste Massaker statt. Auch im Moshaw Yakhini sind Todesopfer zu beklagen. Vier Kibbuzim sind geografisch so verortet, dass sie von Angriffen verschont blieben. Vier weitere Kibbuzim waren stundenlang umkämpft und entgingen nur knapp Massakern.

Der Kibbuz Mefalsim

Der 1949 gegründete Kibbuz Mefalsim ist einer von zehn Kibbuzim der Regionalverwaltung Sha´ar HaNegev. Mit 1.000 Einwohnern, rund einem Viertel Kibbuz-Mitglieder und Dreiviertel seit dem Jahr 2000 zugezogenen Mitgliedern einer mit dem Kibbuz-Kollektiv verwobenen Gemeinschaftsansiedlung, gehört dieser Kibbuz zu den grössten Bevölkerungszentren dieser Regionalverwaltung.

Über Antje C. Naujoks

Antje C. Naujoks lebt seit fast 40 Jahren in Israel, wo sie ihr an der FU Berlin aufgenommenen Studium im Bereich der Politikwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem abschloss. Nach langjähriger wissenschaftlicher Tätigkeit ist sie seit Jahrzehnten für die Öffentlichkeitsarbeit einer israelischen NGO verantwortlich, darüber hinaus aber weiterhin auch als Übersetzerin und Autorin tätig.

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