Holocaust-Überlebende Nina Weil stirbt am Jahrestag der Reichspogromnacht

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Nina Weil. Foto Gamaraal-Stiftung
Nina Weil. Foto Gamaraal-Stiftung
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Nina Weil war eine der letzten Überlebenden der Shoah in der Schweiz. Nun ist die unerschütterliche Aufklärerin über den Holocaust im Alter von 91 Jahren gestorben. Ihr Todestag fiel genau auf den 85. Gedenktag des Pogroms im Jahr 1938.

Nina Weil war jahrzehntelang unermüdlich als Rednerin aktiv, sprach vor Schülern und Lehrern über die Gräuel der Nazis, die sie persönlich erlebte. „Damit so etwas nie wieder geschehe“, wie sie selbst betonte. Dass sie im hohen Alter noch einmal erleben musste, wie Juden gejagt, getötet und verschleppt werden, unter dem Jubel anderer, ist erschütternd. Ihr ganzes Leben stand im Zeichen des Erinnerns und des Mahnens: Nie wieder! Nun ist auch ihr Tod wie zu einem Zeichen geworden für die Warnung davor, was Antisemiten Jüdinnen und Juden anzutun in der Lage sind.

Nina Weil starb am 9. November 2023im Kanton Zürich. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 organisierten SA-Truppen und Angehörige der SS gewalttätige Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung. Über 1.200 Synagogen wurden in jener Nach zerstört, 91 Juden wurden getötet, es war der Beginn eines unvorstellbaren Verbrechens an Juden in Europa.

Nina Weil gehörte zu einer der letzten Überlebenden, die diese Gräuel der Nazis noch persönlich miterlebten und davon berichten können. Trotz der damit verbundenen Anstrengungen sprach Weil in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder vor Schulklassen. In den vergangenen Wochen musste sie miterleben, wie erneut Jüdinnen und Juden gehetzt, verfolgt und brutale Weise getötet wurden: Im Gaza-Streifen fand am 7. Oktober der grösste Mord an Juden seit dem Holocaust statt.

Nina Weil wurde am 12. Juni 1932 in Klattau im heutigen Tschechien geboren. Die Diskriminierung von Juden habe spürbar zugenommen, berichtete sie. Im Jahr 1942 sei sie dann zusammen mit ihrer Mutter ins Konzentrationslager deportiert worden. Im Jahr 1944, als Nina Weil zwölf Jahre alt war, kam sie nach Auschwitz. Die Nazis hatten die Nummer 71978 auf ihren Arm tätowiert, die auch im hohen Alter noch darauf zu sehen war. „Ich habe sehr geweint“, sagte Weil in einem Interview. „Nicht wegen der Schmerzen. Weil ich nun keinen Namen mehr hatte, nur noch eine Nummer.“ Ihre Mutter habe ihr versprochen, wenn alles vorbei sein würde, ihr ein Armband zu kaufen, damit die Nimmer verdeckt werden könne. Auch Tanzunterricht werde sie dann bekommen. Weil: „Ich habe weder ein Armband noch Tanzstunden bekommen. Die Nummer trage ich bis heute.“

Nina Weil, mit eintätowierter Häftlingsnummer. Foto  GAMARAAL Foundation
Nina Weil, mit eintätowierter Häftlingsnummer. Foto GAMARAAL Foundation

Aufklären für ein „Nie wieder!“

Sie war zehn Jahre alt, als sie vor dem berüchtigten KZ-Arzt und Mörder Josef Mengele stand. Zeigte der nach links, ging es in die Gaskammer, zeigte er nach rechts, war die Person arbeitsfähig und durfte weiterleben. „Ich weiss nicht, es war ein Engel bei mir, oder irgend etwas“, erzählte Weil. „Ich konnte nicht gut Deutsch, aber ich sagte zu Mengele: Meine Mutter ist gestorben, ich möchte noch einmal Prag sehen.“ Da liess er sie leben. Ihre Mutter jedoch starb 38-jährig an Erschöpfung. Das Mädchen realisierte in diesem Moment, dass sie nun für immer auf sich allein gestellt war. Weil beschrieb in ihren Erinnerungen auch die Krematorien und die brutalen Wachleute, die ihre Hunde auf die Menschen hetzten und auf die schossen. Als der Krieg zu Ende war und die Konzentrationslager befreit wurden, war Nina Weil dreizehn Jahre alt.

„Wir sind marschiert und marschiert“, berichtete sie. „Es war Januar. Essen haben wir nicht bekommen. Wer Glück hatte, fand etwas Gras am Wegrand. Schnee war unser Wasser. Wir kamen zu einem grossen Bauernbetrieb und durften dort im Stall schlafen.“ Weil kam in ein Waisenhaus. In einem Internat lernte sie ihren späteren Mann kennen. Weil machte in der Prager Poliklinik eine Ausbildung als Laborantin. Im Jahr 1968 bekam sie nach der Niederschlagung des Prager Frühlings Asyl in der Schweiz, wo sie fortan als Laborantin am Universitätsspital Zürich tätig war.

Erst viel später, im Alter von etwa 30 Jahren, konnte Weil mit ihrem Mann über ihr persönliches Leid sprechen. Sie kam zu der Erkenntnis, dass die Welt von ihren Erlebnissen erfahren sollte. Bis ins hohe Alter sprach die Holocaust-Überlebende vor Schülerinnen und Schülern, Lehrern, Studenten und anderen, über das, was die Nazis ihnen antaten. Antisemitismus und jede Form von Hass dürften keinen Platz haben, war sie überzeugt.

„Weil hinterliess uns die Verantwortung, sorgsam mit der historischen Erfahrung umzugehen“

Dabei waren die Auftritte anstrengend, auch weil immer wieder die Erinnerungen wach wurden. Doch davon zu erzählen, sah Weil als eine Verpflichtung an, damit so etwas nie wieder geschehe.

Schon im hohen Alter, brachte sie die Kraft auf, mit der damaligen Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga am 27. Januar 2020 anlässlich des Gedenkanlasses zum 75. Jahrestag der Befreiung nach Auschwitz zu fliegen. Sie legte Blumen an die Stelle, wo sie ihre Mutter zuletzt gesehen hatte.

Kurz vor ihrem Ableben musste die inzwischen erkrankte Nina Weil miterleben, wie Menschen auch in Europa einen Massenmord an Jüdinnen und Juden erneut bejubelten, relativierten oder dazu schlicht nur schwiegen. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) schrieb anlässlich ihres Todes: „Wer sie kannte, weiss: Das muss für sie unerträglich gewesen sein.“

Die 2014 gegründete Schweizer Gamaraal-Stiftung unterstütze Nina Weil wie viele andere bei ihrem Bemühen, das Erinnern an den Holocaust wach zu halten. Die Stiftung, die 2018 gemeinsam mit dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich den „Dr. Kurt Bigler-Preis“ erhielt, organisierte zuletzt eine grosse Foto-Ausstellung, in der die Berichte der Überlebenden präsentiert wurden. Sie war von 2018 in mehreren Städten weltweit zu sehen – unter anderem in Washington, New York, Berlin, Singapur, Shanghai, Athen, in Israel, Albanien, Luxemburg und in vielen Städten der Schweiz. Zum Internationalen Holocaust Tag 2022 ging die Ausstellung auch online. Die Berichte der Überlebenden sind in 23 Sprachen abrufbar.

Zuletzt machte die Stiftung von sich reden, weil sie auch die Social Media-Plattform TikTok, auf der vor allem Jugendliche aktiv sind, nutzte, um an den Holocaust zu erinnern. Auch die bereits 91-jährige Nina Weil ist in kurzen Clips zu sehen. Der TikTok-Auftritt zeigte sehr grossen Erfolg; Allein das Video von Nina Weil wurde in kurzer Zeit 1,9 Millionen mal angeschaut, 260.000 Menschen hinterliessen ein Like.

Die Gründerin und Präsidentin von Gamaraal, Anita Winter, schreibt in einem Nachruf für die NZZ: „Wir sind Nina Weil unendlich dankbar, dass sie die Kraft aufgebracht hat, über Erinnerungen zu erzählen, die teilweise kaum in Worte gefasst werden können.“ In den Schulklassen von heute würden sie und ihre Geschichte fortan fehlen. Nina Weil habe ihr bei ihrem letzten Gespräch nachdenklich gesagt: „Ich bin eine der letzten Überlebenden des Holocaust“. Weiter schreibt Winter: „Nina Weil hinterliess uns nicht nur ihr Zeitzeugnis, sie hinterliess uns auch die Verantwortung, sorgsam mit der historischen Erfahrung umzugehen.“

Über Jörn Schumacher

Jörn Schumacher arbeitet als freier Journalist und lebt in der Nähe von Münster. Er hat Linguistik, Philosophie und Informationswissenschaft studiert und war viele Jahre Redakteur beim deutschen Webportal Israelnetz und beim Christlichen Medienmagazin pro.

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