Wider den Anti-Antisemitismus des Poesiealbums: Warum Bundesrat Cassis’ Positionsbezug gegen den Judenhass eine Fehlleistung ist

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Bundesrat Ignazio Cassis am 24. November 2022, in Brüssel. Foto IMAGO / Belga
Bundesrat Ignazio Cassis am 24. November 2022, in Brüssel. Foto IMAGO / Belga
Lesezeit: 4 Minuten

Aussenminister Ignazio Cassis bezog letzte Woche in einem NZZ-Gastkommentar Position gegen den Antisemitismus. Seine Worte vermitteln eine Unentschlossenheit und Schwäche, die man spätestens seit dem 7. Oktober nicht mehr hinnehmen sollte.

«Es gibt bei uns keinen Platz für Antisemitismus», behauptet der Aussenminister im Titel seines Kommentars. Schon das ist falsch. Es gibt für alles Platz, dem man Platz schafft. Und wie unheimlich viel Platz dem Judenhass gerade geschaffen wird, weiss Cassis selbst: «Die Schweiz ist in den letzten Wochen von einer Welle des Antisemitismus erfasst worden (…) Viele unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger fürchten sich, ihre Wohnung oder ihr Haus zu verlassen (…) Jüdinnen und Juden werden angespuckt und angepöbelt.»

Will man diese Entwicklung nicht akzeptieren, muss man gegen die Antisemiten vorgehen. Der erste Schritt hierzu wäre, festzustellen, um wen es sich bei den Spuckern und Pöblern (und mittlerweile auch Schlägern) handelt. Doch während Cassis im Kontext der Kristallnacht von «Nationalsozialisten und ihren Helfern» schreibt, belässt er es in Bezug auf den heutigen Judenhass bei der täterlosen «Welle des Antisemitismus».

Das Problem dieser Vagheit ist, dass der Fisch vom Kopf her stinkt. Wenn ein Bundesrat ausklammern darf, dass vor allem der Antisemitismus der Tat überwiegend auf das Konto von muslimischen Immigranten geht, mit welchem Recht kann man dann von einer Primarlehrerin verlangen, die scham- und haltlose Judenfeindlichkeit vieler Kinder mit Scharia-Erziehungshintergrund nicht zu ignorieren? Die Lösung von Problemen beginnt mit deren Benennung. Cassis’ Vagheit nach zu urteilen, lässt sich die Lösung des Antisemitismusproblems immer noch hinausschieben.

Nur niemandem auf die Füsse treten

«Die Parole ‹Nie wieder› klingt hohl», fährt Cassis fort, «wenn keine Taten folgen.» Das ist richtig – und führt zur Frage, zu welchen Taten der Aussenminister selbst bereit ist. Geht er endlich gegen die Terroristenfreunde in seinem Departement vor? Versucht er, im Bundesrat eine Mehrheit für die Einführung von Grenzkontrollen zu schaffen? Stellt er sich hinter die Forderung orthodoxer Rabbiner, wegen Judenhass verurteilte Ausländer auszuweisen? Verurteilt er die Bewilligung von Pro-Hamas-Demos? Propagiert er andere Ideen, wie man Drohungen und Gewalt gegen Juden unangenehmer für die Täter machen könnte?

Nichts von alldem. Stattdessen erwähnt er: «An diesem Donnerstag findet in Bern eine von meinem Departement organisierte internationale Tagung statt über die Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus (…) Zudem lässt der Bundesrat prüfen, ob und wie ein Vermittlungs- und Vernetzungsangebot unterstützt werden könnte – ausgehend von einem innovativen Projekt des Kantons St. Gallen.»

Im gleichen Text gegen Antisemitismus, in dem man festhält, dass Juden Angst haben, ihre Wohnungen zu verlassen, von «Erinnerungsorten» und «Vermittlungsangeboten» zu schreiben, ist nicht nur bemerkenswert und vielleicht sogar eine Leistung. Es macht vor allem auch klar, wozu man zum Schutz der Juden bereit ist: nämlich zu allem, solange man dabei niemandem auf die Füsse treten muss.

Jeder Hamas-Sympathisant ein Freund der Juden

Obwohl Cassis’ Kommentar nur ein paar Absätze lang ist, enthält er etliche Leersätze, hinter denen man eher einen progressiven Autor wähnt. «Wir sollten uns immer auf die Seite der Menschlichkeit und der Toleranz stellen», werden wir gemahnt. Wir lernen, dass «Vielfalt unsere Stärke ist» und dass am 7. Oktober «Träume und Hoffnungen ausgelöscht wurden». Ausserdem werden wir an unsere Verantwortung erinnert, «gemeinsam einzustehen gegen Antisemitismus, Rassismus und Gewalt» ­– und daran, dass «auch das Leid der Palästinenser nicht verdrängt werden darf.»

Dieser Poesiealbum-Duktus mag gut gemeint sein. Nur macht er die Währung des Anti-Antisemitismus so weich, dass sie selbst für viele Hamas-Sympathisanten erschwinglich wird. Für «Menschlichkeit und Toleranz» sowie gegen «Antisemitismus, Rassismus und Gewalt» sind ja auch Personen wie Carlo Sommaruga und Geri Müller. Und dafür, «dass das Leid der Palästinenser nicht verdrängt werden darf», sowieso.

Es gibt keinen Zweifel: Was seine Haltung betrifft, unterscheidet sich Bundesrat Ignazio Cassis wohltuend von seinen Amtsvorgängern. Aber Haltung ist nicht alles. Sie muss auch durchgesetzt werden. Schweizer Juden sind an Leib und Leben bedroht. Auf Schweizer Strassen brüllen gewaltbereite Massen Genozid-Parolen und solidarisieren sich mit Hamas-Schlächtern. Ein Bundesrat, der Freund von Volk und Staat Israel ist, darf unter diesen Umständen nicht nur konfrontativer auftreten: Er muss es sogar. Denn nichts befeuert den Judenhass noch mehr als das Signal, die Anti-Antisemiten seien schwach, ängstlich oder zimperlich.

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Über Lukas Joos

Lukas Joos studierte Philosophie und Osteuropäische Geschichte. Er ist selbstständiger Berater im Bereich strategische Kommunikation.

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1 Kommentar

  1. Wie in Deutschland!

    Da gab es übrigens allen Ernstes Überlegungen Überlegungen eine Kindertagesstätte mit Namen „Anne Frank“ im Bundesland Sachsen-Anhalt in „Weltentdecker“ umzubenennen. Dies wurde erst nach internationaler Kritik verworfen.
    Die deutschen Medien – hier u. a. die ZEIT – (eine von der SPD dominierte Zeitung) beeilten sich gleich den Grund dafür, Druck durch Eltern mit Migrationsgeschichte“ (welche Migrationsgeschichte kann man sich vorstellen) als falsch darzustellen.

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