Der Schlächter von Khan Yunis – „Er hätte niemals auf freien Fuss kommen dürfen“

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Der Hamasführer im Gazastreifen Yahya Sinwar spricht während einer Pressekonferenz in Gaza-Stadt am 30. Mai 2019. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Der Hamasführer im Gazastreifen Yahya Sinwar spricht während einer Pressekonferenz in Gaza-Stadt am 30. Mai 2019. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Lesezeit: 8 Minuten

Das ist die Schlussfolgerung eines israelischen Arztes, der den heutigen Hamas-Anführer Yahya Sinwar während seiner Haft im israelischen Gefängnis behandelte und jetzt auf ein entführtes Familienmitglied blickt.

Nach dem grausamen Blutbad an mehr als 1.400 Menschen, welches die Hamas am 7. Oktober 2023 in Süd-Israel anrichtete, gehen alle israelischen Reportagen unter die Haut. Doch dieser 15-minütige Bericht des israelischen TV-Senders Channel 12 stimmt zudem nachdenklich. Dr. Yuval Biton kennt einige der Hamas-Anführer in- und auswendig. Der in Be´er Sheva in einem sozialen Brennpunkt aufgewachsene Biton studierte Zahnmedizin und praktizierte jahrelang im zehn Kilometer von Mitzpe Ramon entfernten Nafcha-Gefängnis. Hier sitzen Schwerverbrecher ihre Haftstrafen ab, darunter auch mehrere hundert Palästinenser, von denen viele das Blut israelischer Bürgerinnen und Bürger vergossen haben.

Biton berichtet, dass er anfangs mit zwei Häftlingen alleine im Behandlungsraum war, einen hätte er behandelt, der andere assistiert. „Ich habe sie zahnmedizinisch versorgt. Sie hätten mich mit Leichtigkeit umbringen können“, meint er im Rückblick. Seine Kenntnisse insbesondere der Hamas-Anhänger veranlassten ihn, beruflich umzusatteln und zur Geheimdienstabteilung des Gefängnisdienstes zu wechseln, in der er verschiedene Positionen bekleidete und die er im Rang eines Brigadegenerals bis vor einigen Jahren schliesslich sogar leitete.

Einblicke in die Seele von Yahya Sinwar

Auch der heutige Anführer der Hamas im Gazastreifen Yahya Sinwar sass auf Bitons Behandlungsstuhl. Natürlich wusste der Dentist, wen er vor sich hatte. Sogar umgeben von mehrfach lebenslang einsitzenden Mördern sei Sinwar ein anderes Kaliber gewesen. „Doch wer dachte schon“, so meint Biton, „dass ausgerechnet dieser Mann auf freien Fuss kommt.“ 2011 stimmte Israel im Gegenzug für die Freilassung des fünf Jahre als Geisel im Gazastreifen festgehaltenen Soldaten Gilad Schalit der Freilassung von 1.027 palästinensischen Häftlingen zu. Darunter auch Sinwar.

Sinwar war der einzige gegen Schalit ausgetauschte palästinensische Häftling, der sich weigerte, vor der erpressten Freilassung eine Verpflichtung zu unterschreiben, nie wieder terroristisch tätig zu werden. Trotzdem wurde er freigelassen. „Vielleicht weil er ´nur` palästinensisches Blut vergossen hat“, sinniert Biton und betont, dass er damals vor dem Bedrohungspotenzial, das von diesem gewalttätig-sadistischen Mörder und radikalem Islamisten ausgeht, eindringlich, wenngleich erfolglos warnte.

Sinwar habe Charisma, meint Biton. „2010 organisierte er den Hungerstreik von 1.600 Häftlingen. Jeder musste auf den Koran schwören, den Hungerstreik bis zum Tod durchzuziehen. Warum? Sinwar wollte zwei Hamas-Mitstreiter freipressen. Proportionen gibt es für ihn nicht. Für seine Ziele ist ihm jeder Preis recht.“

Biton erlebte selbst, dass Sinwar unter seinen eigenen Leuten während seiner fast 24-jährigen Haft weiter folterte, Morde in Auftrag gab oder selbst vollzog, so wie er es bereits in jungen Jahren in Khan Yunis, einer Grossstadt im Gazastreifen, tat. Für viele PLO-Leute, die selbst keine Unschuldslämmer sind, ist Sinwar nicht grundlos ein Sadist, der Teufel schlechthin, der sich die Bezeichnung „Schlächter von Khan Yunis“ ehrlich verdient hat.

Der Werdegang eines Schlächters

Yahya Sinwar wurde 1962 in Khan Yunis geboren. Da seine Familie 1948 aus Ashkelon geflohen war, genoss er automatisch Flüchtlingsstatus mit allen von den Vereinten Nationen zugesprochenen und von der internationalen Staatengemeinschaft finanzierten Vergünstigungen. Sinwar machte einen Bachelor-Abschluss in Arabisch, widmete sich jedoch einem anderen „Handwerk“. Als Ende 1987 die Hamas gegründet wurde, war er als gerade einmal 25-Jähriger massgeblich am Aufbau des militärischen Flügels dieser radikal-islamischen Terrorvereinigung beteiligt. Nicht nur das.

Im Februar 1988 wurde er von israelischen Sicherheitskräften, denen der Gazastreifen damals noch unterstand, festgenommen. Ihm wurde zur Last gelegt, als einer der führenden Köpfe der Madschd al-Mudschahedin Brigaden („Ruhm der Mudschahedin“) der Hamas, die ähnlich wie ein Inlandsgeheimdienst aufgebauten sind, mehrere Palästinenser gefoltert und ermordet zu haben. Für Sinwar hatte der blosse Verdacht, dass Gefolgsleute mit Israel kollaborieren könnten, ausgereicht, um sie mit blossen Händen zu ermorden. Nur einige Morde konnten ihm nachgewiesen werden, so dass er von Israels Justiz zu vier lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurde. Sinwar gab selbst in einem Interview, das ein israelischer Journalist mit ihm im Gefängnis führte, in recht gutem Hebräisch an, dass er die Haftzeit bestens genutzt habe, nämlich „zum Studium des Feindes.“

Laut Biton setzte er sein blutiges Handwerk im israelischen Gefängnis fort, sowohl gegen Hamas- als auch Fatah-Anhänger. Doch erst nachdem er 2011 freikam und in den Gazastreifen abgeschoben wurde, legte er so richtig los. Schliesslich herrschte „seine Hamas“ damals bereits seit vier Jahren mit Waffengewalt im Gazastreifen. 2017 stieg er zum gewählten de-facto-Machthaber der Hamas auf. Lange bevor er 2021 wiedergewählt wurde, hatte er sich einen Namen als jener Mann gemacht, der dafür sorgt, dass immer mehr junge Männer rekrutiert und im Terrorhandwerk ausgebildet werden. Zudem trieb er den Ausbau des Tunnelnetzwerkes im Gazastreifen voran.

Schwachpunkte brillant erkannt

Dass er Israel tatsächlich genau kennt, darauf deutet auch der Ablauf des Hamas-Überfalls. Er war zudem generalstabsmässig geplant, Israel zuvor in jeder Hinsicht ausspioniert worden. Die Gaza-Hamas-Leitung setzte auf strengste Geheimhaltung und gab erst in letzter Minute genauere Anweisungen, aber immer nur an einzelne Kommandos, die nichts von den „Marschbefehlen“ der anderen wussten. Die Elite-Nukhba-Kommandos wurden mit allen erdenklichen Kriegsmitteln ausgesandt, erhielten den Auftrag zu grausamen Blutakten, aber auch die Order, israelische Geiseln nach Gaza zu verschleppen. Ein durchaus kluger Schachzug Sinwars. Damit traf er Israel schmerzlich, da das Land das Ethos hochhält, niemand hinter feindlichen Linien zurückzulassen.

Im Dezember 2022 nahm Israel wahr, wie Sinwar anlässlich des 35. Hamas-Gründungstages auf einer Grosskundgebung die Waffe des 2014 getöteten Hadar Goldin zur Schau stellte. Damals sagte er, dass über die Freigabe der irgendwo im Gazastreifen verborgenen Leiche dieses israelischen Soldaten verhandelt wird. Die Sanduhr würde allerdings ablaufen und dann „werden wir einen anderen Weg finden, unsere Gefangenen zu befreien, so Allah will.“ Das Mittel, dies zu verpressen, hat er nun in seiner Gewalt: die israelischen Geiseln, die darüber hinaus auf eine zynische Weise als menschliche Schutzschilde missbraucht werden.

Späte Einsicht

Heute weiss man, im Dezember 2022 war Sinwar längst mit der Planung des Überfalls beschäftigt. Es liegen Hinweise vor, dass er eigentlich schon im April 2023 um das jüdische Pessach-Fest hatte losschlagen wollen. Es wird vermutet, dass der Iran, der damals Aussichten auf Millionensummen von den USA hatte, auf Verzögerung drängte.

Der Schweizer EDA Mitarbeiter J. Thöni (links) an einem Treffen mit Hamas-Führer  Yahya Sinwa im November 2017. Foto Hamas
Der Schweizer EDA Mitarbeiter J. Thöni (links) an einem Treffen mit Hamas-Führer Yahya Sinwa im November 2017. Foto Hamas

Heute weiss Israel zudem, dass Sinwar mit gutem Grund in der letzten Eskalationsrunde im Mai 2023, als Israel gezielt gegen den Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) im Gazastreifen vorging, keinen Mucks machte. Trotz grossartiger Verbrüderung mit dem PIJ und der im Libanon agierenden Hisbollah, fiel die Hamas zur Verwunderung Israels nicht in den Raketenbeschuss ein. Man sparte sich die Kriegsmittel lieber für den „grossen Schlag gegen die Zionisten“ auf, der genau 50 Jahre und einen Tag nach dem Yom-Kippur-Krieg lanciert und vermutlich nicht weiter hinausgezögert wurde, weil die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien gut vorankam.

„Das ist Sinwars Dank“

Doch zurück zu Dr. Biton. Im Zuge der Reportage besuchte er mit einem Verwandten erstmals seit dem Massaker den Kibbuz Nir Oz, der nur wenige Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt ist. Dieser Kibbuz mit knapp 400 Bewohnern vermisst rund ein Viertel seiner Bevölkerung. Dutzende wurden von den aus mehreren Richtungen gleichzeitig einfallenden Hamas-Terroristen auf grausame Weise ermordet.

Biton berichtet in dem vollkommen ausgebrannten Haus seines Neffen Tamir Adar stehend, dass dieser seiner Frau Hadas sagte, sie solle sich mit den zwei Kindern (3,5 und 7 Jahre) im Schutzraum verbarrikadieren. Zudem mahnte er sie: „Du machst unter keinen Umständen die Tür auf, auch dann nicht, wenn ich davorstehen und dich darum anflehen sollte.“

Als wenig später zur Sprache kommt, dass die in Schutzräumen verbarrikadierten Kibbuzniks nicht nur hörten, wie die Hamas-Terroristen fortwährend um sich schliessen und alles verwüsten, sondern sie wahrnehmen mussten, dass die Schergen jubeln, im Freudentaumel über ihre blutigen Taten sind, schluckt Biton sichtlich. Es fällt ihm schwer, Worte zu finden, presst dann aber irgendwie heraus: „Wir wurden auf der Grundlage eines so sehr anderen Wertsystems erzogen …“

Erste Soldaten trafen an dem Shabbat lediglich um 13.30 Uhr in diesem Kibbuz ein. Da waren die mordenden Terroristen bereits verschwunden, mit nicht weniger als 70 Geiseln. Die aus Nir Oz Verschleppten stellen rund ein Viertel der in den Gazastreifen gekidnappten Männer, Frauen, Kinder und Senioren. Dazu gehört auch der 38-Jährige Neffe Bitons, der seine Familie alleinliess, um sich der bewaffneten Bereitschaft des Kibbuz anzuschliessen und gegen die Terroristen zu kämpfen. Zum letzten Mal hörte man zwei Stunden nach Beginn des Überfalls von Tamir Adar.

Plakat des Hamas-Führers im Gazastreifen Yahya Sinwar am 16. April 2020. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Plakat des Hamas-Führers im Gazastreifen Yahya Sinwar am 16. April 2020. Foto IMAGO / ZUMA Wire

Biton, der vor Ort sichtlich mit der Fassung zu ringen hat, blickt hingegen kühl-sachlich auf das Jahr 2004 zurück. Er berichtet, was ganz Israel weiss, aber im Ausland nicht unbedingt zum Allgemeinwissen gehört. Sinwar erkrankte während der Haft im israelischen Gefängnis schwer. In einigen Dokumenten ist die Rede von einem Gehirntumor, Biton spricht von einer eitrigen Entzündung am Gehirn. Ausser Zweifel steht: Israelische Ärzte retteten Sinwar auf Kosten der israelischen Steuerzahler das Leben.

Zurück im Gefängnis habe Sinwar ein Wort gesagt, „Toda“, Hebräisch für Danke. Biton glaubt allerdings, dass der eigentliche Dank für den Rettungsakt, der für das humane Israel auch im Fall eines mehrfachen sadistischen Mörders selbstverständlich ist, erst jetzt kam. Sinwars zynischer Dank ist die Planung des von seinen Schergen ausgeführten Pogroms an Juden, welches das grösste seit der Shoa und auf israelischem Hoheitsgebiet beispiellos ist. Danach gefragt, was Biton Sinwar sagen würde, sässe dieser ihm nochmals gegenüber: „Niemand anderes als Du, Yahya Sinwar, hat das Blut seiner Brüder und Schwestern im Gazastreifen an den Händen. Du hast das Ende der Hamas eingeleitet.“

Über Antje C. Naujoks

Antje C. Naujoks lebt seit fast 40 Jahren in Israel, wo sie ihr an der FU Berlin aufgenommenen Studium im Bereich der Politikwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem abschloss. Nach langjähriger wissenschaftlicher Tätigkeit ist sie seit Jahrzehnten für die Öffentlichkeitsarbeit einer israelischen NGO verantwortlich, darüber hinaus aber weiterhin auch als Übersetzerin und Autorin tätig.

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