Europäische Juden müssen frei von Angst leben können

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28. Oktober 2023, Tausende von Pro-Palästina Demonstranten marschieren durch die Strassen von Rom. Foto IMAGO / ZUMA Wire
28. Oktober 2023, Tausende von Pro-Palästina Demonstranten marschieren durch die Strassen von Rom. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Lesezeit: 6 Minuten

Seit fast einem Monat erleben wir einen massiven Anstieg des Antisemitismus in der westlichen akademischen Welt.

von Vittorio Mascarini

Studenten, die sich selbst für “Freiheitskämpfer” halten, benehmen sich wie antisemitische Schläger, die an den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDGB) erinnern. Jüdische Studenten werden auf dem Campus schikaniert und gezwungen, sich in einer Schulbibliothek einzuschliessen, um einem wütenden Mob zu entkommen, der pro-palästinensische Parolen brüllt. Ihre nichtjüdischen Kommilitonen verbreiten üble antisemitische Rhetorik, während sie Plakate von unschuldigen Israelis – darunter Babys, Kinder und ältere Menschen – herunterreissen, die von der Hamas entführt wurden.

Dies ist keine Unterstützung für “Entkolonisierung”, “Selbstbestimmung” oder “palästinensische Rechte”. Es ist etwas, das dem Antisemitismus der Nazis sehr ähnlich ist und das bekämpft werden muss.

Der Antisemitismus an amerikanischen Universitäten hat internationale Schlagzeilen gemacht, aber die Situation für jüdische Studenten in Europa ist ebenso düster. Als europäisch-jüdischer Student und Jugendgruppenleiter habe ich selbst erlebt und gehört, wie der Hass unter dem Deckmantel der Unterstützung des “palästinensischen Widerstands” wütet und allgegenwärtig ist. Diese neue Rechtfertigung für völkermörderischen Antisemitismus ist zum modernen Ersatz für die Endlösung geworden.

In Italien, wie auch im übrigen Europa, befinden wir uns in einer Situation, in der wir gezwungen sind, unsere Identität zu verbergen. Der kleinste öffentliche Hinweis darauf, dass wir Juden sind, könnte rassistische Gewalt auslösen. Dazu gehören Kippa, Davidstern-Halsketten und sogar unsere eigenen Namen. Erschreckenderweise haben mir einige Freunde erzählt, dass sie es vorziehen, in der Öffentlichkeit falsche Namen zu verwenden.

An der Universität von Bologna, an der ich studiere, ist die Situation für jüdische Studenten katastrophal. Seit dem 7. Oktober finden in Bologna regelmässig pro-palästinensische Demonstrationen statt, bei denen viele Studenten üble antisemitische Gesänge anstimmen und rassistische Plakate zeigen. Ein Plakat, das von einer jungen Frau gehalten wurde, hat mich besonders beeindruckt: “Hitler wird euch in der Hölle wiedersehen”.

Angst an eine Prüfung zu gehen

Asher, der ebenfalls an der Universität Bologna studiert, sprach am vergangenen Wochenende während des Schabbat-Gottesdienstes in unserer Synagoge mit mir über seine Angst, auf dem Universitätsgelände unterwegs zu sein.

“Ich habe keine Freunde mehr an der Universität”, sagte er. “Leute, die ich kenne, von denen ich schon vor dem Krieg spürte, dass sie Juden oder Israel gegenüber feindselig eingestellt waren, verharmlosen jetzt entweder die Tatsache, dass es Antisemitismus gibt, oder machen stattdessen offen antisemitische Bemerkungen. Ich habe sogar Angst, an eine Prüfung zu gehen.”

Auch Juden, die linken studentischen Organisationen angehören, werden bedroht. Ariel, ein italienischer Aktivist für die Rechte von LGBTQ+-Juden auf dem Campus, nahm kürzlich an einer internationalen Konferenz für LGBTQ+-Jugendliche in Osteuropa teil. In weissen Umschlägen, die positive Botschaften enthalten sollten, fand er die Slogans “Free Palestine” und “Free Palestine from murderous Zionism”. Als er die Organisatoren auf die Angelegenheit aufmerksam machte, ignorierten sie ihn.

Schlimmer noch, Ariel erzählte mir gestern, dass er Drohanrufe von einer unbekannten Nummer erhalten hat, etwas, das auch bei anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaft Italiens immer häufiger vorkommt.

Die Jerusalem Post berichtete am 29. September, dass in Frankreich, das inzwischen zum Epizentrum des modernen europäischen Antisemitismus geworden ist, “mehr als neun von zehn französischen Juden, die eine Universität besuchen, Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht haben”. Das Klima hat sich durch die Pro-Hamas-Propaganda, die von Islamisten und der radikalen Linken verbreitet wird, exponentiell verschlechtert.

Naomi, eine deutsch-israelische Freundin von mir, die in ihrer örtlichen jüdischen Reformgemeinde aktiv ist, besucht eine Universität in Nordrhein-Westfalen. Sie erzählte mir, dass sie innerhalb eines Monats viele Freunde verloren hat. Schockierenderweise war es an ihrer Universität der Sicherheitsdienst, der dafür verantwortlich sein sollte, die Universität zu einem sicheren Ort zu machen, der die Gesichter der von der Hamas entführten Israelis von den Plakaten kratzte.

Ich fühlte mich furchtbar hilflos

Ein noch beunruhigenderer Vorfall ereignete sich, als Naomi und andere jüdische Studenten diese Plakate im Stadtzentrum anbrachten. Während die Gruppe die Plakate an einem Laternenpfahl anbrachte, hielt die deutsche Polizei sie an, verlangte ihre Papiere und wies sie an, aufzuhören, weil sie “öffentliches Eigentum beschädigt und eine nicht genehmigte Demonstration und Versammlung organisiert” hätten.

Die jüdischen Studenten versuchten zu erklären, dass sie von der Stadt die Erlaubnis erhalten hatten, die Plakate anzubringen. Die Polizei antwortete brüsk: “Wir haben das letzte Wort über Ihre Genehmigung”. Als die Studenten die Beamten darauf hinwiesen, dass das, was sie taten, ungerecht sei, antworteten sie: “Es ist nicht unsere Aufgabe, zu entscheiden, was richtig und falsch ist. Wir sind nur die Polizei und müssen unseren Job machen” – eine Behauptung, die auf unheimliche Weise an den Klassiker “Wir haben nur Befehle befolgt” erinnert.

Schliesslich drohte die Polizei ihnen mit Strafmassnahmen und zwang die Studenten, die Plakate unter den Augen der Polizei zu entfernen.

Naomi erzählte mir: “Ich fühlte mich furchtbar hilflos, weil ich wusste, dass sie versuchten, uns zu provozieren und einen Grund zu finden, uns in Schwierigkeiten zu bringen. Ich erkannte das an ihrer Haltung und ihrem Tonfall. Ich war so verletzt und wütend, dass ich am liebsten geweint hätte, um diese Polizisten für ihr Verhalten zur Rede zu stellen, aber ich wusste, dass sie die Macht hatten und ich nichts tun konnte. Es ist eine Schande, dass uns heute in Deutschland die Polizei befiehlt, Fotos von entführten israelischen Kindern abzureissen.”

Ich habe immer versucht, mir den berühmten Ausspruch der ehemaligen israelischen Premierministerin Golda Meir zu eigen zu machen: “Pessimismus ist ein Luxus, den sich ein Jude niemals erlauben kann.” Dennoch ist es mir unmöglich, diese schreckliche Geschichte mit einem Hauch von Optimismus abzuschliessen. Im Jahr 2023 haben Deutsche in Uniform wieder einmal keine Skrupel, eine Gruppe hilfloser jüdischer Studenten einzuschüchtern. Was soll man dazu noch sagen?

Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen erklärte kürzlich: “Wir müssen das jüdische Leben in Europa schützen”. Ich fürchte jedoch, dass “schützen” jetzt eine unerwartete Bedeutung hat. Seit geraumer Zeit leben wir Juden unter “Schutz”, während Linksradikale und Islamisten ihre antisemitischen Ansichten in Demonstrationen auf den Strassen frei äussern können. Radikale Islamisten können in Moscheen ungehindert ihren völkermordenden Hass predigen. Noch grotesker ist, dass sich diese Islamisten jetzt mit Neonazis in den sozialen Medien zusammengetan haben.

“Schutz” allein erhält weder das jüdische Leben noch garantiert er, dass es gedeiht, denn er verweigert den europäischen Juden ein wesentliches Recht: Die “Freiheit von Furcht”, die US-Präsident Franklin D. Roosevelt 1941 in seiner Rede zur Lage der Nation wortgewaltig beschrieb.

Also, Frau von der Leyen, die europäischen Juden sind vielleicht “geschützter” als je zuvor, aber wir sind wieder einmal nicht frei von Angst. Das ist ihre Verantwortung, und die Verantwortung von ganz Europa.

Vittorio Mascarini ist ein italienischer jüdischer und zionistischer Aktivist. Er ist Vorsitzender von Tamar Italia, der zionistischen Organisation der jungen italienischen Reformjuden. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate (JNS). Übersetzung Audiatur-Online.

2 Kommentare

  1. Es wäre schön, wenn bei der Geschichte mit der deutschen Polizei wenigstens die Stadt genannt wäre, damit man als Leser der Angelegenheit, auch durch Anfragen bei der örtlichen Polizei und der Stadtverwaltung, nachgehen könnte. So wirkt die völlig faktenlose Geschichte eher unglaubwürdig. Die Polizei hat nie das letzte Wort über von der örtlichen Kommunalverwaltung erteilte Sondernutzungserlaubnisse. Allenfalls zur akuten Gefahrenabwehr, etwa wenn Plakate im Kreuzungsbereich aufgehängt werden, Ampeln verdecken oder anderweitig Gefahren befördern, kann und muß Sie unverzüglich tätig werden. Also bitte – bei aller berechtigten Betroffenheit, Sorge und Furcht – ein Minimum an Nachprüfbarkeit und nicht “es war einmal in einer Stadt in Deutschland”

  2. Dass die deutsche Polizei so wie in diesem Artikel reagierte, ist darauf zurückzuführen, dass sie je nach Bundesland die Erfüllungsgehilfin der jeweiligen Landesregierung ist.
    In Bundesländern, in denen die Ex-SED-Partei “Die Linke” mitregiert (so Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Bremen, letztere Hochburg des Islamismus) vertritt die Polizei häufig nicht das Recht der Bürger, sondern der Herrschenden. Egal was SPD, Grüne und ihre Koalitionspartner die Ex-SED-Partei “Die Linke” offiziell behaupten. Unter diesen, tendenziell faschistischen Zuständen leiden aber nicht nur jüdische Mitbürger, sondern auch andere.

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