Israels humanitäre Verpflichtungen gegenüber der Zivilbevölkerung in Gaza

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Israelische Soldaten in einem Einsatzgebiet unweit der Grenze zwischen Israel und Gaza, 17. Oktober 2023. Foto IMAGO / ABACAPRESS
Israelische Soldaten in einem Einsatzgebiet unweit der Grenze zwischen Israel und Gaza, 17. Oktober 2023. Foto IMAGO / ABACAPRESS
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In der Diskussion über Art und Umfang der Verpflichtungen Israels gegenüber der Zivilbevölkerung in Gaza herrscht oft Unklarheit. Mehrere wichtige Fragen müssen geklärt werden: Ist Gaza ein besetztes Gebiet? Ist es zulässig, die Stromversorgung des Gazastreifens zu unterbinden? Darf Israel den Gazastreifen im Rahmen seines Krieges gegen die Hamas belagern? Besteht die Pflicht, humanitäre Hilfe nach Gaza zu lassen? Ist die Empfehlung an die Zivilbevölkerung im Gazastreifen, in den Süden zu evakuieren, eine Form der internen Vertreibung?

von Pnina Sharvit Baruch und Tammy Caner

Das Besatzungsrecht findet keine Anwendung

Der Gazastreifen ist kein besetztes Gebiet unter israelischer Kontrolle mehr.

Nach internationalem Recht wird die Besetzung durch die tatsächliche Kontrolle der Besatzungsmacht über ein Gebiet bestimmt. Nach Israels Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 hat Israel keine effektive Kontrolle mehr über das Gebiet. Daher kann es nicht als Besatzungsmacht in Gaza angesehen werden. Die Hamas hat die tatsächliche Kontrolle über das Gebiet. Das Ausmass und die Komplexität ihrer überraschenden Angriffe auf Israel vom Gazastreifen aus sind ein klarer Beweis für die fehlende Kontrolle Israels über dieses Gebiet.

Israel ist daher nicht rechtlich verpflichtet, für die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu sorgen, die sich aus dem Besatzungsrecht ergeben. Dies gilt auch für Wasser und Strom.

Israel hat einige grundlegende humanitäre Verpflichtungen gegenüber der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, die sich aus den Regeln des Rechts des bewaffneten Konflikts ergeben, die sich auf die Verpflichtungen gegenüber der gegnerischen Zivilbevölkerung beziehen. Diese Verpflichtungen sind jedoch von begrenzter Tragweite, wie im Folgenden ausgeführt wird.

Das Verbot des „Aushungerns“ von Zivilisten

Die Gesetze des bewaffneten Konflikts verbieten das Aushungern von feindlichen Zivilisten als Mittel der Kriegsführung. Das Aushungern umfasst die Verweigerung von Nahrung und Wasser. Die Verweigerung von Strom oder Treibstoff fällt jedoch nicht darunter.

Das Verbot des Aushungerns gilt nicht für feindliche Kombattanten; ihnen kann die Versorgung mit Nahrung und Wasser verweigert werden. Soweit die Unterbindung der Versorgung feindlicher Kampftruppen mit Nahrungsmitteln und Wasser der Zivilbevölkerung Schaden zufügt, muss dieser Schaden verhältnismässig sein, d. h. es darf kein übermässiger Schaden für die Zivilbevölkerung im Vergleich zum militärischen Nutzen der Operation entstehen. Dies ist auch die Position der USA, wie sie im Laws of War Manual des US-Verteidigungsministeriums festgelegt ist.

Israel kann Massnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass Nachschub an die Hamas und andere terroristische Organisationen gelangt. Dabei muss es sicherstellen, dass die Zivilbevölkerung im Gazastreifen nicht verhungert (einschliesslich Wasserknappheit).

Verpflichtung zur Ermöglichung der Durchfahrt von humanitärer Hilfe

Israel ist nicht verpflichtet, aktiv humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung in Gaza zu leisten. Israel ist lediglich verpflichtet, die Durchfuhr von humanitärer Hilfe, einschliesslich Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung, zu ermöglichen. Es gibt keine feste Liste von Gütern, die transportiert werden müssen, und es gibt verschiedene Ansätze zu diesem Thema.

Es ist möglich, eine Inspektion und Überwachung zu verlangen, um sicherzustellen, dass die Hilfsgüter für die Zivilbevölkerung bestimmt sind und nicht zu den Terroristen der Hamas oder anderen Organisationen gelangen.

In der Praxis sind in den letzten Tagen humanitäre Hilfslieferungen über den Grenzübergang Rafah nach Gaza gelangt. Die Hamas beschlagnahmt regelmässig Hilfsgüter, die für die Zivilbevölkerung bestimmt sind, für ihren militärischen Bedarf. Ein aktuelles Beispiel ist der (später gelöschte) Tweet von UNWRA, dass die Hamas Treibstoff und medizinische Ausrüstung vom Gelände der Organisation entwendet hat, die eigentlich für Krankenhäuser und zivile Einrichtungen bestimmt waren.

Belagerung: Legitime Kriegsführung

Eine Belagerung ist eine legitime Methode der Kriegsführung, um feindliche Truppen von Verstärkungen und lebenswichtigem Nachschub abzuschneiden. Bei der Verhängung einer Belagerung müssen die zu erwartenden Kollateralschäden für die Zivilbevölkerung in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten militärischen Vorteil stehen und dürfen nicht unverhältnismässig sein.

Die Hamas von Verstärkungen und Nachschub abzuschneiden, kann für Israel einen erheblichen militärischen Vorteil bedeuten, insbesondere angesichts der grossen Gefahr, die die Hamas für Israels Sicherheit darstellt. Dennoch kann eine Belagerung nicht die Aushungerung der Zivilbevölkerung rechtfertigen. Um dies zu verhindern, muss die Zivilbevölkerung aus dem Belagerungsgebiet evakuiert oder humanitäre Hilfe geleistet werden können.

Trotz der Erklärung von Verteidigungsminister Yoav Gallant unmittelbar nach dem mörderischen Angriff der Hamas und inmitten der Kämpfe gegen die Hamas-Terroristen auf israelischem Gebiet, dass keine Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen werden, ist keineswegs klar, dass die israelische Politik gegenüber dem Gazastreifen einer Belagerung gleichkommt, im Gegensatz zu einer weitreichenden Abriegelung des Gebiets.

In jedem Fall – sei es eine Belagerung oder eine weitreichende Abriegelung – sollen die von Israel verhängten Beschränkungen die Einfuhr von Waffen und Nachschub für die Hamas und andere Terrororganisationen verhindern und sind daher legal. Sie zielen nicht darauf ab, die Zivilbevölkerung zu bestrafen, und stellen daher keine unrechtmässige kollektive Bestrafung dar. In der Praxis gibt es leider keine Möglichkeit, Lieferungen der Hamas zu verhindern, ohne der Zivilbevölkerung Schaden zuzufügen. Dieser unbeabsichtigte Schaden ist zulässig, solange er verhältnismässig ist. Bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit muss man die erhebliche Bedrohung berücksichtigen, die die Hamas für die Sicherheit Israels und seiner Bürger darstellt.

Zwangsumsiedlung vs. rechtmässige Evakuierung

Die militärische Infrastruktur und die Aktivitäten der Hamas und der anderen terroristischen Organisationen im Gazastreifen finden innerhalb ziviler Strukturen statt. Dies macht sie zu rechtmässigen militärischen Zielen, die von Israel legal angegriffen werden können. Um den Schaden für die palästinensische Zivilbevölkerung durch diese Angriffe so gering wie möglich zu halten, forderte Israel die Bewohner des Gazastreifens auf, sich in den südlichen Gazastreifen zu evakuieren, und liess zu diesem Zweck humanitäre Korridore zu. Diese Massnahmen wurden von Israel als rechtmässige vorübergehende Evakuierung von Zivilisten aus einem Kampfgebiet ergriffen und nicht als verbotene Zwangsumsiedlung zur kollektiven Bestrafung oder dauerhafte Vertreibung. Mit diesen Massnahmen kam Israel seiner Verpflichtung nach, vor Angriffen auf die Zivilbevölkerung durchführbare Vorsichtsmassnahmen zu treffen und sie, wenn möglich, vorher zu warnen.

Die Hamas ist die Regierungsmacht, die den Gazastreifen kontrolliert, und nur sie kann (und sollte) sich um die Evakuierung der Zivilbevölkerung und deren Entfernung aus dem Kampfgebiet kümmern. Die Hamas hat jedoch versucht, die Zivilbevölkerung an der Evakuierung in den südlichen Gazastreifen zu hindern, indem sie die Strassen blockierte und die fliehenden zivilen Konvois bombardierte. Damit sollen die Zivilisten als menschliche Schutzschilde gegen die Angriffe der IDF eingesetzt werden. Damit hat die Hamas ein weiteres Kriegsverbrechen begangen, dieses Mal gegen ihre eigene Bevölkerung.

Mangelnde Gegenseitigkeit

Die Hamas hat Gräueltaten begangen, bei denen Babys, Kinder und wehrlose Zivilisten innerhalb Israels gefoltert und abgeschlachtet wurden, und begeht weiterhin ein Verbrechen, indem sie mehr als 230 israelische Geiseln, darunter Kinder, ältere Menschen, Frauen und Männer, festhält. Darüber hinaus verstösst die Hamas auch gegen ihre humanitären Verpflichtungen gegenüber den israelischen Geiseln. Bis heute wurden keine Informationen über ihren Zustand veröffentlicht, es gibt keine Möglichkeit der Kommunikation mit ihnen und es wurden keine Treffen mit Vertretern des Roten Kreuzes gemeldet. Dennoch muss Israel seinen Verpflichtungen gegenüber der Zivilbevölkerung im Gazastreifen nachkommen, da die Kriegsgesetze keinen Grundsatz der Gegenseitigkeit enthalten und somit auch dann verbindlich sind, wenn eine der Parteien sie offenkundig verletzt.

Oberst (a.D.) Pnina Sharvit Baruch ist seit 2012 wissenschaftliche Leiterin am Institute for National Security Studies (INSS) in Tel Aviv und leitet Fachgebiet Recht und nationale Sicherheit. Tammy Caner ist die Koordinatorin des Fachgebietes Recht und nationale Sicherheit am INSS. Übersetzung Audiatur-Online.