Israel begräbt seine Toten

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Foto ZAKA
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Jerusalems Straßen sind leer wie selten. Doch an einer Stelle braucht es sogar Nachtschichten, um das Pensum zu schaffen. Unter Flutlicht tun Freiwillige einen Dienst, für den die Empfänger keine Dankbarkeit mehr zeigen können.

von Andrea Krogmann

Seit Kriegsbeginn am Samstagmorgen sind die Straßen Jerusalems wie ausgestorben. Auf den Hauptverkehrsstraßen in der Innenstadt passieren zur Hauptverkehrszeit kaum eine Handvoll Autos. Dienstagnacht aber, entlang des Herzlbergs im Nordwesten der Stadt, staute es sich. Parkende Fahrzeuge füllten jeden Zentimeter des Bürgersteigs; zahlreiche Menschen liefen durch das Dunkel einer der ersten Herbstnächte. Hier, auf dem Herzlberg, liegen die Gräber bedeutender Zionisten und politischer Führer des Landes. Und hier, am nördlichen Hang, begräbt Israel seine gefallenen Soldaten. Täglich kommen Gräber hinzu, seit am Samstag die radikalislamische Hamas ihre Angriffe auf das Land begonnen hat.

Es ist weit nach Mitternacht. Um den aufgeschütteten Hügel drängen sich Männer. Viele von ihnen tragen die charakteristische Kleidung strengreligiöser Juden, andere Uniform; in der Luft liegen traditionelle Gesänge. Auf einfachen Schildern stehen Personenkennziffer, Dienstgrad, Name, mit schwarzem Filzstift handschriftlich vermerkt. Immer wieder werfen sich Trauernde auf den Sand, der das frische Grab bedeckt. Zehn Gräber allein auf diesem Grabfeld sind hinzugekommen. Die Blumenkränze darauf sind so frisch wie die Wunden.

Ein Militär und ein Friedhofsmitarbeiter drängen die Trauernden zu Eile, freundlich, aber bestimmt. Es ist die letzte Beerdigung in dieser Nacht; doch dem Friedhof steht dennoch eine lange Nacht bevor. Dutzende Freiwillige, ausnahmslos religiös-jüdische Männer, sind dem Aufruf gefolgt, ihre Kräfte in dieser Nacht in einen Dienst zu stellen, der in der jüdischen Tradition als “Chesed schel Emet”, als ultimativer Akt der Güte gilt: Tote begraben; jener Dienst, für den der Empfänger keine Dankbarkeit mehr zeigen kann.

Angestrahlt von Flutlicht und unter einem weißen Planenhimmel hören sie der kurzen, präzisen Einweisung zur Aushebung neuer Gräber zu. Den Kunstrasen wegrollen, die hölzerne Abdeckung öffnen; die Erde in weiße Säcke füllen. So viele sind gekommen, dass sie sich in Stundenschichten einteilen. 

Unermüdlich schaufeln Minibagger

Unermüdlich schaufeln sich vier Minibagger durch das Erdreich. Einen Meter tief, knapp 1,70 Meter weit, hüftbreit. Wurzeln und andere Widerstände werden von Hand beseitigt. Macheten und Spaten wechseln sich ab. Kaum mehr als eine Handspanne Erde trennt das eine Grab vom nächsten. Ist es ausgehoben, wird die Erde sackweise wieder in die Grube gestapelt, die Holzplatte wieder aufgelegt. 123 Namen von gefallenen Soldaten veröffentlichte die israelische Armee bislang. 

Zusammen mit anderen Sicherheitskräften und Zivilisten stieg die Zahl in Israel in vier Tagen über 1.200, ein grausamer Rekord. Die Identifizierung der gefundenen Leichen solle auch am Schabbat fortgesetzt werden, urteilte einer der Oberrabbiner des Landes.

Zwischen den Gruben herrscht konzentrierte Geschäftigkeit. Warnhinweise, wenn ein Bagger von Grab zu Grab wechselt, und praktische Zurufe sind die dominierende Geräuschkulisse. Dann und wann stimmt jemand ein Gebet an. Gefühle werden mit Blickwechseln transportiert. Worte scheinen überflüssig. Ab und an fällt ein Tropfen auf die frische Erde. Hier ist es Schweiß von der physischen Anstrengung, dort eine Träne ob ihrer Bedeutung.

Wasserflaschen wandern wortlos von Hand zu Hand. Immer wieder zieht sich jemand auf eine Zigarettenlänge zurück zwischen die Gräber aus früheren Kriegen. Auch der Tabak wird geteilt. “Lev echad” – ein Herz – steht auf dem ausgeleierten T-Shirt einer der freiwilligen Totengräber, darüber ein Herz mit einem Davidstern.

Einer der Friedhofsmitarbeiter, der unermüdlich die Nacht durch zwischen den Männern seine Runden dreht, hält einen langen Moment inne und meditiert das Geschehen. Was er hier sehe, sagt er im Vorbeigehen, “ist groß, ganz groß”. Worte, die gleichermaßen den Schmerz und den Schock umfassen wie das überwältigende Gefühl der Schicksalsgemeinschaft.

KNA/akr/brg

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