Die Welt wird aufmerksam, wenn Juden sich schlecht benehmen

Vorfälle, bei denen Juden in Jerusalem Christen bespucken, sind zu verurteilen. Aber warum kümmern sich in einer Welt, die gegenüber so viel Leid gleichgültig ist, so viele Menschen so sehr darum?

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Tausende von evangelikalen christlichen Pilgern und Israelis marschieren bei einer Parade im Zentrum Jerusalems anlässlich des jüdischen Feiertags Sukkot oder Laubhüttenfest, 4. Oktober 2023. Foto Eitan Elhadez-Barak/TPS
Tausende von evangelikalen christlichen Pilgern und Israelis marschieren bei einer Parade im Zentrum Jerusalems anlässlich des jüdischen Feiertags Sukkot oder Laubhüttenfest, 4. Oktober 2023. Foto Eitan Elhadez-Barak/TPS
Lesezeit: 7 Minuten

Es ist die Art von Vorfällen, die Juden auf der ganzen Welt vor Abscheu und Scham zusammenzucken lässt. Videos von Haredi-Juden, die christliche Pilger bei ihrem Besuch in Jerusalem oder am Eingang einer Kirche in der Altstadt während des Sukkot-Festes bespucken, gingen in den letzten Tagen viral. Unter Israelis und Juden auf der ganzen Welt lösten die Vorfälle eine Welle von Verurteilungen und Gewissensbissen sowie einige wenig überzeugende Rationalisierungen aus.

von Jonathan S. Tobin

Dennoch muss man sich fragen, warum so viele Menschen bereit sind, sich auf die Juden zu stürzen, wenn sie sich schlecht verhalten, während sie relativ gleichgültig gegenüber dem sind, was in der Welt geschieht, das zweifellos noch viel schlimmer ist. Mit dieser Feststellung soll die Abscheulichkeit eines solchen Verhaltens der Juden nicht gerechtfertigt oder gar heruntergespielt werden. Aber es ist schwer, den Eifer so vieler, auch und vielleicht besonders säkularer liberaler Juden, zu ignorieren, die sich auf jeden Beweis stürzen, dass ihre religiösen Brüder einige fehlerhafte Individuen in ihren Reihen haben.

Dennoch sollte es keine widersprüchlichen Botschaften darüber geben, wie falsch es für Juden – in Israel oder anderswo – ist, Angehörige eines anderen Glaubens zu schikanieren. Es gibt keine Entschuldigung oder einen Kontext, der es für einen Juden, ob religiös oder nicht, richtig oder sogar verständlich macht, jemanden in seiner Gegenwart oder sogar in der Nähe einer heiligen Stätte oder eines Gotteshauses anzuspucken.

In den Tagen nach der Veröffentlichung der Videos ist eine Diskussion darüber entbrannt, dass es unter aschkenasischen Juden eine Art Tradition gibt, als Reaktion auf die Anwesenheit von Christen zu spucken.

Die Vorstellung, dass dies weit verbreitet oder in irgendeiner Weise durch religiöse Autoritäten gerechtfertigt war, ist höchst zweifelhaft. Wenn überhaupt, dann handelte es sich eindeutig um einen heimlichen Protest gegen die Verfolgung, der die Juden in den christlichen Ländern ausgesetzt waren. Aber was auch immer Juden getan haben mögen, um ihren Groll gegen diejenigen auszudrücken, die sie in der Vergangenheit unterdrückt haben, die Vorstellung, dass ein Jude, der im Jahr 2023 in einem jüdischen Staat lebt, sich berechtigt fühlen sollte, einen Akt der öffentlichen Verachtung für eine religiöse Minderheit, die in seiner Mitte lebt, zu begehen, ist empörend. Jeder, der meint, dies sei eine Tradition, die an die Jugend weitergegeben werden sollte, erweist dem Judentum und dem jüdischen Volk einen schweren Bärendienst und beweist seinen eigenen schlechten Charakter.

Deshalb kann man bei allen Gefühlen, die diese Videos hervorrufen, eine gewisse Genugtuung darüber empfinden, dass einige der Spucker gefasst wurden. Es ist auch beruhigend festzustellen, dass die Verurteilung aus dem gesamten Spektrum des jüdischen Lebens kam, einschliesslich führender israelischer Politiker wie Premierminister Benjamin Netanjahu und sogar rechtsgerichteter Persönlichkeiten wie dem Minister für öffentliche Sicherheit Itamar Ben-Gvir, der wegen seiner eigenen Äusserungen und seines Verhaltens häufig Zielscheibe von Verunglimpfungen ist.

Christen verdienen Respekt

Das sollte über die aktuellen Debatten zwischen religiösen und säkularen Juden hinausgehen, oder sogar über die Frage, ob Christen versuchen, unter Juden zu missionieren oder nicht.

Dass die Zielscheibe dieser Vorfälle ausländische evangelikale Christen waren, die Israel zum Laubhüttenfest (Sukkot) besuchten, ist besonders empörend.

Diese Christen sind überzeugte Unterstützer Israels. Sie pilgern in den jüdischen Staat, um ihren Glauben im Land seines Ursprungs zu praktizieren und ihre Liebe zu Israel zum Ausdruck zu bringen. Dass selbst eine winzige Minderheit von Israelis sie schlecht behandelt, ist nicht nur moralisch falsch, sondern auch ein Schlag für die Bemühungen des Landes, im Ausland Unterstützung zu gewinnen. Es untergräbt die engagierten Bemühungen christlicher Zionisten – wie der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem, die die jährliche Sukkot-Veranstaltung organisiert -, die Verleumdungen und Lügen der Antisemiten zu bekämpfen. Diese Freunde sollten in Israel mit offenen Armen empfangen werden, und so sehen das die meisten Israelis auch zu Recht.

Und obwohl die politische Kluft zwischen den israelfreundlichen christlichen Konservativen und den liberalen Juden in vielen Fragen enorm ist, sollten die amerikanischen Juden über sie so denken, wie es die Israelis tun. Die Verachtung, die viele auf der jüdischen Linken für dieselben Evangelikalen empfinden, ist nicht weniger schändlich als das Verhalten derjenigen, die sie bespuckt haben.

Auch die Tatsache, dass einige Christen versuchen, ihren Glauben in Israel zu verbreiten, sollte diese Vorfälle in keiner Weise rechtfertigen.

Die Erinnerung der Juden an vergangene Ungerechtigkeiten ist lang. Von der Eroberung des Römischen Reiches durch das Christentum bis in die Neuzeit gab es zahlreiche Versuche von Zwangsbekehrungen, die von Massakern oder der Vertreibung von Juden aus Ländern, in denen sie seit langem lebten, begleitet wurden.

Christen mögen eine religiöse Verpflichtung haben, das, was sie für die „gute Nachricht“ ihres Glaubens halten, mit Nicht-Gläubigen zu teilen. Aber sie sollten bei Juden immer vorsichtig sein, denn diese hegen einen natürlichen Groll gegen diejenigen, die versuchen, sie von ihrem Erbe wegzulocken – sei es durch ehrliches Eintreten oder, wie es manchmal bei den so genannten „messianischen Juden“ der Fall ist, mit unaufrichtigen oder geradezu irreführenden Argumenten.

Dennoch sollten Juden, die in freien Ländern – geschweige denn in einem jüdischen Staat – leben, genügend Vertrauen in ihre eigene Identität haben, um christlichen Missionaren mit wohlwollender Gleichgültigkeit zu begegnen. Die Vorstellung, dass solche Christen eine echte Bedrohung für das jüdische Volk darstellen, ist unsinnig. Wenn eine kleine Zahl konvertiert, dann liegt die Schuld eher bei den Juden, die es versäumt haben, ihre Kinder über ihr Erbe und ihren Glauben aufzuklären, als bei irgendetwas anderem.

In Israel, wo das Recht auf freie Meinungsäusserung und freie Religionsausübung nicht wie in den USA durch den ersten Zusatzartikel geschützt ist, wird dies manchmal vergessen. Jeder Jude, der sich durch die Anwesenheit von Christen, die ihren Glauben ausüben oder sogar dafür eintreten, beleidigt fühlt, sollte einfach die Güte haben, es zu ignorieren.

Das Interesse an Geschichten über jüdisches Fehlverhalten

Aber auch wenn all dies wahr ist, lohnt es sich zu fragen, warum die Handlungen einiger weniger Juden, die sich so verhalten, als eine so grosse Sache angesehen wird.

Das liegt zum Teil an der Standardlogik des Journalismus, nach der „Mann beisst Hund“-Geschichten immer als berichtenswerter und interessanter angesehen werden als solche, in denen sich der Hund wie ein Hund verhält und beisst. Wenn also Juden – die überall, ausser im Staat Israel, eine religiöse Minderheit sind – sich gegenüber einer religiösen Minderheit wie Rüpel aufführen, weckt das zwangsläufig Interesse.

Leider ist das Interesse an Geschichten über jüdisches Fehlverhalten auch immer proportional zur Intensität des Antisemitismus, wie zum Beispiel in der Gegenwart, in der der Judenhass auf der ganzen Welt zunimmt. Dieser äussert sich in erster Linie in Bemühungen, den einzigen jüdischen Staat auf der Welt zu delegitimieren. So ist es eine Selbstverständlichkeit, dass alles, was Juden in einem schlechten Licht erscheinen lässt oder ihren Mehrheitsstatus in ihrer eigenen Heimat missbraucht, von einer Medienlandschaft hervorgehoben wird, die bereits dazu neigt, Israel zu bekämpfen.

Zu diesen unglücklichen Faktoren kommt nun noch ein weiterer Grund hinzu, warum den Spuckvorfällen mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, als sie eigentlich verdienen würden: die säkular-religiöse Kluft.

Die Protestbewegung gegen die Justizreform der israelischen Regierung wird eher von Ressentiments des säkularen, liberalen Sektors der israelischen Gesellschaft gegenüber den Religiösen angetrieben als von wirklichen Sorgen um die Zukunft der „Demokratie“. Angesichts der Absurdität und des repressiven Charakters des offiziellen orthodoxen Rabbinats, das die Kontrolle über die Ereignisse des täglichen Lebens hat, und der Weigerung der Haredim, im Militär zu dienen oder sich an der Wirtschaft zu beteiligen, ist ein Teil dieses Grolls berechtigt. Aber wie die Ereignisse der letzten Woche gezeigt haben, in der die Stadt Tel Aviv versucht hat, öffentliche Gebetsgottesdienste orthodoxer Juden zu verbieten, und säkulare Aktivisten solche Gottesdienste angegriffen und gestört haben, ist dieser antireligiöse Geist in erster Linie durch Intoleranz gegenüber dem Religiösen motiviert als durch etwas anderes.

Das ist der Grund, warum die linke Presse in Israel, wie Haaretz und Times of Israel, die sich für eine Bewegung stark gemacht haben, die in dem Wunsch der säkularen liberalen Eliten wurzelt, ihre letzte Bastion unkontrollierbarer Macht – den Obersten Gerichtshof Israels – zu verteidigen, so schnell dabei war, die Spuckvorfälle als weiteren Beweis für die inhärente Schlechtigkeit ihrer religiösen und nationalistischen politischen Feinde zu behandeln.

Ich habe kein Verständnis für diejenigen auf der israelischen Rechten, die darauf hinweisen, dass mehr Israelis verhaftet wurden, weil sie Christen angespuckt haben, als weil sie religiöse Juden angegriffen haben, die die Frechheit besassen, in der Öffentlichkeit zu beten. Die Spucker sind verabscheuungswürdig und verdienen, was auch immer auf sie zukommt. Aber diejenigen, die die Spucker als Rechtfertigung für eine neue Variante der Politik ansehen, die man getrost als Antijudaismus bezeichnen kann, sind nicht besser als die Rabbiner, die sie verurteilen.

In einer Welt, in der der anhaltende Völkermord an den Uiguren in China ignoriert wird und antijüdischer Terrorismus als so alltäglich gilt, dass er in der Presse kaum Erwähnung findet, sollten wir nicht so tun, als sei diese Geschichte mehr als eine bedauerliche Kuriosität. Der Wunsch, sie über ihre tatsächliche Bedeutung hinaus aufzubauschen, ist genauso widerlich wie die Tat selbst.

Jonathan S. Tobin ist Chefredakteur von JNS (Jewish News Syndicate). Übersetzung Audiatur-Online.

2 Kommentare

  1. Herr Wenninger wirkt mit seinen dauerenden antireligiösen Äusserungen je länger je mehr antijüdisch und rassistisch. Aus diesem Grunde verwundere ich mich nicht, dass Wenninger noch keinen Kommentar zu dem barbarisch brutalen Angriff von Hamas Monstern am 7. Oktober abgesetzt hat…

  2. Nach dem heutigen Angriff der Hamas auf Israel könnte man Probleme wie dieses als nebensächlich abtun. Ganz so nebensächlich sind sie freilich nicht, denn sie zeigen, dass auch auf der jüdischen Seite der religiöse Radikalismus immer stärker wird und trotz gegenteiliger rechtlicher Gegebenheiten den öffentlichen Raum mehr und mehr für sich beansprucht.

    Und in diesem Zusammenhang verschweigt Tobin wieder einmal etwas ganz Wesentliches: Die Stadt Tel Aviv hat der Gebetsveranstaltung der schwer orthodoxen „Rosch Yehudi“ keineswegs grundlos die Genehmigung verweigert, sondern weil Rosch Yehudi dabei auf einer Trennung der Geschlechter beharrte, was von der Stadtverwaltung wie von liberaleren Juden als diskriminierend gesehen wird. Deshalb betonte Bürgermeister Ron Huldai auch, dass Veranstaltungen im öffentlichen Raum nur dann eine kommunale Genehmigung erhalten könnten, wenn die grundsätzlichen Werte der Stadt respektiert würden. Dazu war Rosch Yehudi allerdings nicht bereit.

    Wieder einmal an diesem Zündeln beteiligt war Minister Itamar Ben-Gvir. Er erntete dafür sogar Kritik von Simcha Rothman von der Rechtsaußenpartei „Religiöser Zionismus“. Auch hier ist Tobin auf einem Auge blind. Denn Ben-Gvir ist eben nicht nur „häufig Zielscheibe von Verunglimpfungen“, er ist vor allem Adressat von sehr viel berechtigter Kritik.

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