Jom Kippur: Jemandem zu verzeihen, gibt uns Freiheit zurück

Von neuen Chancen, einem inneren Kompass und Vertrauen

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Symbolbild. Foto IMAGO / Pond5 Images
Symbolbild. Foto IMAGO / Pond5 Images
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Um Verzeihung zu bitten und jemandem zu verzeihen, ist oft nicht einfach – aber wichtig für den einzelnen Menschen selbst und das Zusammenleben. Die Psychologische Psychotherapeutin Barbara Traub aus Stuttgart erklärt im Interview den Stellenwert des Verzeihens und wie man angemessen darum bittet. Traub ist auch Mitglied im Präsidium des Zentralrats der Juden in Deutschland und im Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs.

von Leticia Witte (KNA)

Am Sonntagabend beginnt der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur, der bis Montagabend dauert. Bis zu diesem Versöhnungstag sollten nach jüdischer Auffassung zwischenmenschliche Unstimmigkeiten und Verfehlungen ins Reine gebracht werden, um eine Vergebung der gegen Gott gerichteten Sünden zu erhalten. Kurz vor Jom Kippur begann das neue jüdische Jahr 5784.

Leticia Witte: Frau Professorin Traub, wie wichtig ist es, um Verzeihung zu bitten und diese auch zu gewähren?

Barbara Traub: Es ist sehr entlastend. Man kann Schuldgefühle abbauen. Das Judentum geht davon aus, dass der Mensch zur Freiheit geboren ist. Wenn man Gram gegenüber jemandem spürt, schleppt man dieses Gefühl mit sich herum. Das macht unfrei. Wechselseitig Fehler einzugestehen und die Chance zu bekommen, sie zu korrigieren, ist gut für das psychische Gleichgewicht und gibt Freiheit zurück.

Und was bedeutet es für das Zusammenleben?

Um Verzeihung zu bitten und zu vergeben, ist wichtig für das Zusammenleben. Wir müssen unseren Weg immer wieder korrigieren, damit wir mit der Gemeinschaft gut zurecht kommen und die Gemeinschaft mit uns zurecht kommt. Auf das Judentum bezogen, fühlt man sich durch das Verzeihen Gott näher und kann befreit ins neue Jahr starten.

Manchmal sind Vorfälle so schlimm und Verletzungen so groß, dass sie vielleicht nicht zu verzeihen sind.

Ja, wenn zum Beispiel jemand bei einem Unfall zu Tode gekommen ist, können Angehörige das oftmals nicht. Dann muss man mit dem Geschehenen weiterleben, aber trotzdem einen Weg finden. Denn wenn man Groll mit sich trägt, schwächt das einen selbst. Es ist ratsam, für sich einen Weg zwischen Verzeihen und der eigenen Wut zu finden.

Wie kann so ein Weg aussehen?

Zeit ist ein Faktor, denn man kann nichts herbeizwingen. Auch wenn ich einer Person nicht verzeihen kann, gibt es vielleicht eine andere Person im jeweiligen Kontext, mit der ich einen Weg finden kann. Zum Beispiel erkennen manche Holocaust-Überlebende an, dass es in Deutschland jetzt eine neue Generation gibt, die nicht in die Verbrechen im Nationalsozialismus verstrickt ist, eine andere Sichtweise hat und bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.

Offenbar hat das Verzeihen unterschiedliche Facetten.

Ja, das ist eine riesige Bandbreite und letztlich ein Prozess. Es gibt sicher Konflikte, die nicht vor Jom Kippur oder dem Neujahrsfest Rosch Haschana zehn Tage zuvor gelöst werden können. Aber man kann Signale der Annäherung aussenden.

Was genau ist eigentlich das Verzeihen?

Es ist die Bereitschaft, einem anderen Menschen eine neue Chance zu geben – und sich selbst übrigens auch. Verbunden mit dem Glauben, dass sich Menschen verändern können. Jemandem zu verzeihen heißt, sich nicht auffressen zu lassen von negativen Gefühlen und Verbitterung. Das Gespräch wird nicht abgebrochen.

Wie bittet man angemessen um Verzeihung?

Indem man deutlich macht, dass es einem ernst ist und man sich bemühen will, es künftig anders zu machen. Auch wenn es durchaus möglich ist, wieder in die Lage zu kommen, die zu Unstimmigkeiten oder Verletzungen geführt hat. Dafür ist ein innerer Kompass nötig: Mir muss klar sein, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Ein Kompass entsteht durch Erziehung sowie ethische und religiöse Bildung.

Und wie verzeiht man am besten?

Das sollte auf Augenhöhe und möglichst von Angesicht zu Angesicht passieren. Denkbar ist auch ein Brief. Bei tiefen Verletzungen hilft das Schriftliche manchmal besser. Später kann man immer noch persönlich miteinander sprechen.

Sie sagten, dass trotz ernst gemeinter Reue immer die Möglichkeit mitschwingt, dass erneut etwas Schlimmes geschieht. Raten sie dazu, jemandem auch im wiederholten Fall zu verzeihen?

Das muss man von Fall zu Fall entscheiden. Religiös setzt Verzeihen Reue und die Bereitschaft zur Umkehr, die sogenannte Teschuwa, voraus. Gegebenenfalls müssen daher auch beim Verzeihen Grenzen aufgezeigt werden. Zugleich kann man dem anderen Menschen weiterhin Gesprächsbereitschaft signalisieren. Natürlich kann es zu Brüchen kommen, wenn es nicht anders geht, oder zu einer zeitweisen Vermeidung des Kontakts. Wichtig ist, dass man von klein auf lernt, sich zu entschuldigen. Kinder erfahren dann, dass einem vergeben wird. Auch dadurch entsteht Vertrauen in andere Menschen.

Jom Kippur ist seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels der höchste Feiertag im Judentum. Der Versöhnungstag beginnt in diesem Jahr am Sonntagabend (24. September) und dauert bis Montagabend (25. September). Er wird als strenger Fast- und Ruhetag begangen und von der Mehrheit der Jüdinnen und Juden, einschließlich der nicht-religiösen, eingehalten.
Neben Essen und Trinken sind an Jom Kippur nach der Thora sexuelle Kontakte, Körperpflege und Luxusgegenstände wie etwa Lederschuhe verboten. Am Versöhnungstag kleidet man sich weiß. Vor Anbruch der Nacht versammeln sich Menschen in Synagogen, um das Kol-Nidre-Gebet zu sprechen – den formelhaften Widerruf aller persönlichen Gelübde, Eide und Versprechungen gegenüber Gott, die unwissentlich oder unüberlegt abgelegt wurden.
Um eine Vergebung der gegen Gott gerichteten Sünden zu erhalten, müssen bereits vor Jom Kippur alle zwischenmenschlichen Verfehlungen ins Reine gebracht werden. Schon die zehn dem Feiertag vorausgehenden Tage sind deswegen geprägt von Buße und Fasten. Nach dem Talmud ist dies die Zeit, in der durch Einkehr und Umkehr für Sünden des Jahres gesühnt und somit das Urteil über den Eintrag in das Buch des Lebens positiv beeinflusst werden kann.
Der Versöhnungstag schließt mit dem Gebet der “Ne’ila”, das einen letzten Appell an die Barmherzigkeit Gottes darstellt, bevor sich die Tore des Himmels schließen. Mit dem Ausgang von Jom Kippur wird mit den Vorbereitungen für das bevorstehende achttägige Laubhüttenfest (Sukkot) begonnen.

 

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