Die Unesco hat das jüdische-mittelalterliche Erbe Erfurts offiziell in die Welterbeliste aufgenommen. Für Thüringen ist es der fünfte derartige Titel. Erst zum zweiten Mal wurde jüdisches Kulturgut in Deutschland Welterbe.
von Karin Wollschläger
Erfurt hat den Titel: Unmittelbar nachdem die Entscheidung des Unesco-Welterbekomitees in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad gefallen war, knallten am Sonntag im Rathaus der Thüringer Landeshauptstadt die Sektkorken und Banner mit der jiddischen Aufschrift „Masel tov“ (Viel Glück) wurden entrollt. Das jüdisch-mittelalterliche Erbe inmitten der Erfurter Altstadt ist nun offiziell in die Welterbe-Liste aufgenommen. Unter den insgesamt 50 Nominierungen, über die das Komitee auf seiner diesjährigen Sitzung entscheidet, war es der einzige deutsche Antrag.
Seit 2008 arbeitete Erfurt darauf hin. Am Ende umfasste der Welterbe-Antrag mehrere Elemente: Herzstück ist die Alte Synagoge, deren älteste Teile aus dem 11. Jahrhundert stammen. Das Gebäude, heute als Museum genutzt, zählt zu den größten und am besten erhaltenen Synagogen dieser Zeit in Europa. Gut 120 Meter entfernt entdeckte man 2007 bei Ausgrabungen ein großes jüdisches Ritualbad, eine Mikwe, ebenfalls aus dem Mittelalter und vom Bau her bislang einzigartig. Zusammen mit einem jüdischen Wohn- und Geschäftshaus, dem sogenannten Steinernen Haus nahe der Krämerbrücke, repräsentieren die Bauten in kompakter und anschaulicher Weise die frühe Blütezeit jüdischen Lebens in Mitteleuropa.
Zu den Bauwerken kommen sogenannte Sachzeugnisse hinzu: Unter anderem hebräische Handschriften, etwa 75 erhaltene Grabsteine des 13. bis 15. Jahrhunderts vom ehemaligen jüdischen Friedhof sowie der „Erfurter Schatz“ aus dem 14. Jahrhundert. Er umfasst 30 Kilogramm Silberbarren, Münzen, Silbergeschirr und weitere Goldschmiedekunst. Er tauchte 1998 bei Ausgrabungen auf und gilt von Umfang und Zusammensetzung her als einmaliger Fund.
Bislang befand sich überhaupt erst eine jüdische Stätte in Deutschland in der Liste des Unesco-Welterbes: 2021 wurden Relikte der mittelalterlichen jüdischen Gemeinden von Mainz, Speyer und Worms – der sogenannten SchUM-Stätten – aufgenommen. Dazu gehören der Speyerer Judenhof, der Wormser Synagogenbezirk sowie die alten jüdischen Friedhöfe in Worms und in Mainz.
Anfänglich hatte Erfurt gehofft, mit diesen Städten gemeinsam den Welterbe-Antrag zu stellen. Doch dann zerschlug es sich. Und eigentlich hätte die Unesco schon im vergangenen Jahr Erfurt auf seiner Tagesordnung gehabt – doch damals hatte Russland den Vorsitz im Welterbekomitee, und angesichts des Angriffskriegs auf die Ukraine wurde die Jahrestagung abgesagt. So dass nun in einer verlängerten Doppelsitzung noch bis zum 25. September über insgesamt 50 Welterbe-Anträge entschieden wird.
Der Erfurter Antrag nimmt auch die Ambivalenz der jüdischen Gemeinde- und Alltagsgeschichte in den Blick: im Spannungsverhältnis mit ihrer christlichen Umwelt, von den Anfängen im späten 11. Jahrhundert, über Aufstieg und Blüte, aber auch Ausschreitungen und Verfolgungen bis hin zur vollständigen Auslöschung bei dem Pogrom vom 21. März 1349. All das hinterließ Spuren, die sich bis heute an den Bauwerken erhalten haben.
So wurde die Mikwe – wie viele Gebäude im jüdischen Quartier – beim Pogrom massiv beschädigt. Juden, die sich ab 1354 in Erfurt ansiedelten, nutzten das Ritualbad weiter, während die Alte Synagoge bereits in ein Lager umgebaut war. Der Stadtrat erzwang 1453/54 die Abwanderung von Juden aus Erfurt. Spätestens dann endete die Nutzung der Mikwe, die vornehmlich zur kultischen Reinigung nach Berührungen mit Toten, mit Blut oder anderem, in religiösem Sinne Unreinen diente. Das Becken wurde verfüllt, der Raum darüber bis ins 20. Jahrhundert als Keller genutzt. Seit 2011 ist die wieder freigelegte Mikwe für Besucher geöffnet und bei Führungen zugänglich.
In seiner Unesco-Bewerbung sah Erfurt auch ein Bekenntnis zu der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands, die gemeinsamen Wurzeln von Juden und Christen in Europa in Erinnerung zu rufen, und den Beitrag jüdischer Bürger zu Gelehrsamkeit und wirtschaftlicher Blüte angemessen zu würdigen. Die Fülle von Bau- und Sachzeugnissen sei ein Glücksfall für die Stadtgeschichte, hieß es. Zugleich liege eine Verantwortung darin, das auch im Mittelalter immer wieder bedrohte Verhältnis zwischen jüdischen und christlichen Stadtbewohnern angemessen darzustellen und zu vermitteln.
Und mit dem Welterbe-Titel für Erfurt geht nach Ansicht des katholischen Bischofs Ulrich Neymeyr auch heute eine Verpflichtung zum konsequenten Vorgehen gegen Antisemitismus einher: „Jüdinnen und Juden können immer noch nicht unbesorgt in Deutschland leben, und es sieht so aus, als würden sie es immer weniger können.“ Das sei ein Skandal, erklärte er am Sonntag: „Dagegen vorzugehen und die gemeinsamen Wurzeln zu entdecken, die Juden und Nichtjuden verbinden, ist auch eine Verpflichtung, die sich aus dem Welterbe-Titel ergibt.“
KNA/kws/gbo