«Lauf Junge lauf» – Jüdischer Junge gibt sich als Christ aus und überlebt Holocaust

0
Filmstill aus
Filmstill aus "Lauf Junge Lauf" (© NFP marketing & distribution)
Lesezeit: 3 Minuten

Adaption eines Jugendromans von Uri Orlev über einen jüdischen Jungen, der den Holocaust überlebt, weil er sich als Christ ausgibt. Ein sehenswerter Film von Oscar-Preisträger Pepe Danquart.

von Heidi Strobel

Die Anzahl der Zeitzeugen, die heute noch von der Schoah berichten können, wird immer geringer. Umso wichtiger erscheint es, deren Erinnerungen der Nachwelt zu überliefern, sie literarisch oder filmisch zu dokumentieren. Dabei gilt es, auch formal einen Zwiespalt zu meistern: Wie lässt sich das Schicksal von brutal traumatisierten Menschen angemessen darstellen?

Pepe Danquarts Verfilmung von Uri Orlevs Kinderroman “Lauf, Junge, lauf” stützt sich auf solch ein Zeugnis; sie verdichtet die Erlebnisse des jüdischen Zeitzeugen Joram Fridman. Der Film setzt im Winter 1942/43 ein. Der achtjährige Srulik, der nach der Vertreibung aus seiner Heimatstadt mit seiner Familie im Warschauer Ghetto leben musste, ist auf der Flucht vor den Deutschen. Zumeist hält er sich im Wald versteckt.

Dort war Srulik auf eine Gruppe anderer jüdischer Kinder gestoßen, die ihm zeigten, wie man fern der Zivilisation überlebt. Jetzt bringt sich der Junge mehr schlecht als recht alleine durch den stürmischen, eiskalten polnischen Winter. Dabei halten ihn die Worte seines Vaters aufrecht. Der schärfte seinem Sohn ein, dass er niemals aufgeben dürfe. Und meinte damit zugleich auch die jüdische Identität. Doch genau diese wird er verleugnen müssen.

Als er völlig entkräftet vor einem Bauernhof zusammenbricht, nimmt ihn die freundliche Besitzerin bei sich auf und verschafft ihm eine neue Identität. An den Türen der Bauern stellt er sich künftig als christlicher Junge namens Jurek vor, der sich für sein Essen als Knecht verdingt.

Im Kinderroman reiht sich Ereignis an Ereignis. Ohne jedes Pathos beschreibt Orlev, wie der Junge nach seiner Unterweisung durch Gleichaltrige, durch den Vater und durch eine Ersatzmutter Stück für Stück allein zu überleben lernt. Dabei muss er gute von bösen Menschen unterscheiden; selbst von deutschen Soldaten erfährt er auch Freundlichkeit. Doch kein Ort ist auf Dauer sicher, und so sucht er sich immer wieder eine neue Unterkunft.

Dass der Protagonist nicht in Depressionen versinkt, sondern sich “zusammenreißt”, ist im Roman eine Schutzreaktion auf den plötzlichen Verlust der Mutter, die auf einmal wie vom Erdboden verschluckt war. Dieses Abspalten-Müssen aller Gefühle prägt die Erzählweise des Romans, der ohne alles Getöse auskommt. Mit sparsamen und einfachen Worten spricht Orlev von den alltäglichen Verrichtungen und den Gefühlen des Protagonisten; manchmal sind es nur Gesten und Blicke. Sie offenbaren, dass Srulik im Grunde seines Herzens ein kleiner Junge ist, der sich nach seiner Familie, seiner Mutter und einem Zuhause sehnt.

Es ist dieses im Inneren verborgene Drama, das der Roman spürbar macht. Dafür adäquate filmische Mittel zu finden, ist nicht einfach; die Inszenierung ist an manchen Stellen daran gescheitert. Pepe Danquart setzt auf äußere Spannung, er strafft die einzelnen Episoden – durchaus nachvollziehbar -, führt Rückblenden im Dienst der Dramatisierung des Geschehens ein, um die “Huckleberry Finn’sche Reise eines kleinen Jungen” zu inszenieren. Der Protagonist stürzt von einem Abenteuer ins nächste; am Ende versteht er es sogar, durch erzählerische Übertreibung seiner Erlebnisse bei Bauern ein besseres Essen herauszuschlagen.

Wenn Srulik durch eine weite Landschaft hetzt, dann weiß der Zuschauer, dass der Held einsam und bedauernswert ist, doch in den malerischen, geradezu romantischen Ansichten, durch eine zuweilen unerträglich kitschige Musik pathetisiert, verliert sich jeder Schrecken und jeder Schmerz.

Fraglich ist auch, warum das Ende abgeändert wurde: Während im Film die Erinnerung an die väterliche Unterweisung den Helden veranlasst, seine jüdischen Wurzeln wieder anzuerkennen, bringen ihn im Roman die Wärme, Weichheit und Heiterkeit einer Frau dahin, dass er sich dem Gefühl der Schwäche und Ohnmacht stellt. Danach kann er sich auch wieder das Gesicht seiner Mutter vergegenwärtigen. Mit der Vorstellung, dass die emotionale Erstarrung der Opfer sich durch Mütterlichkeit lösen lässt, konnte der Regisseur offenbar wenig anfangen.

“Lauf Junge lauf”, Freitag, 1. September , 20.15 – 22.25 Uhr, 3sat. Die Autorin ist Mitarbeiterin des Kinoportals filmdienst.de.

KNA/mit/gbo

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.