Israel: Zivile Unruhen und Umgestaltung des Landes

Die Anti-Netanjahu-Proteste haben auch etwas Gutes: Veränderungen, die unmöglich zu erreichen schienen, sind jetzt das Gebot der Stunde.

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Anti-Regierungs-Proteste in Tel Aviv am 24. Juli 2023. Foto IMAGO / NurPhoto
Anti-Regierungs-Proteste in Tel Aviv am 24. Juli 2023. Foto IMAGO / NurPhoto
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Die Ergebnisse der demokratischen Wahlen in Israel im November 2022 brachten eine absolute Parlamentsmehrheit für Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seine Koalition aus rechtsgerichteten, rechtsnationalen Parteien, gleichzeitig musste das linke Lager in Israel Verluste hinnehmen.

von Dr. Ron Schleifer

Die politische Linke weigerte sich, die neue Realität zu akzeptieren, da sie grössere Veränderungen im wirtschaftlichen und bürokratischen Bereich befürchtete, die sie trotz des politischen Rechtsrucks, der mit der Machtübernahme durch Menachem Begin im Jahr 1977 einsetzte, bisher zu vermeiden wusste. Die organisierten und gut finanzierten Unruhen führten zu heftigen, nahezu gewalttätigen Protesten, die sich schliesslich zu regelrechten Krawallen ausweiteten. Sie umfassten unter anderem Brandstiftungen sowie verbale und sogar physische Angriffe auf gewählte Mitglieder der Knesset und Minister der Regierungskoalition sowie deren Familien.

Obwohl sie “Jeder, nur nicht Bibi” als Hauptziel ihrer Kampagne verfolgten, brauchten sie einen besser vermarktbaren Anlass, um die Öffentlichkeit zu erzürnen, und wählten daher einen Punkt aus Netanjahus Programm, die Justizreform, als ihr Hauptthema.

Unter Missachtung der von Aharon Barak durchgeführten grossen Justizrevolution, die einen in den meisten Demokratien in denen die Gewaltenteilung gilt, nicht gekannten Justizaktivismus durchsetzte, haben die Reformgegner auf der Strasse den Schlachtruf “Demokratie” gewählt und damit den Rechten eine diktatorische Haltung unterstellt.

Nicht nur Politik

Oberflächlich betrachtet scheint es sich bei den Spannungen um einen Wettstreit zwischen Linken und Rechten zu handeln, doch bei näherer Betrachtung ist das, was auf Israels Strassen, Autobahnen, im Geschäftsleben und in der Industrie geschieht, eine Angleichung der zugrunde liegenden sozialen und ethnischen Spaltungen, die seit der Gründung des Staates schwelen. Die Vorherrschaft der israelischen Linken in der Politik, der Arbeiterbewegung, der Wissenschaft, der Justiz, der Polizei und den Medien wurde im Wesentlichen als ein faktisches Gründungsprinzip betrachtet – nicht unähnlich dem sowjetischen System, in dem der Staat, die Partei und die Arbeiterschaft zu einer einzigen Machtbasis verschmolzen waren.

Um im Israel der 1950er Jahre einen Job zu bekommen, musste man Mitglied der nationalen Gewerkschaft (Histadrut) sein. In der Praxis bedeutete das, dass man Mitglied der “ewig” regierenden Arbeitspartei (haAwoda) sein musste, was wiederum bedeutete, dass man ein Israeli osteuropäischer (aschkenasischer) Abstammung sein musste. Juden, die aus arabischen Ländern einwanderten (Sephardim), wurden an den Rand gedrängt und waren bis 1977 nie wirklich Teil der politischen und sozialen Chancengleichheit.

Menachem Begin brach mit der traditionellen Missachtung der Sephardim als erkennbares Segment der Wählerschaft – und der israelischen Bevölkerung im Allgemeinen – und stärkte sie. Indem er sie in seine politische Basis einbezog, brach er zum ersten Mal in den 29 Jahren seit der Gründung des Staates die Macht der Arbeitspartei über die israelische Politik, ganz zu schweigen von der 60 Jahre zuvor erfolgten sozialistischen Übernahme der zionistischen Bewegung.

Für die Linke war die Wahl Begins zum Ministerpräsidenten ein blosser Ausrutscher, ein Zufall, der beim nächsten Mal korrigiert werden sollte. Nach mehreren Wahlsiegen von Netanjahus Likud und seinen Koalitionspartnern fühlte sich die Linke, die die neue politische Lage richtig einschätzte, bedroht. Israels Mehrheit wünscht sich eine nationale und religiös empfindsame Führung im Gegensatz zur etablierten, sozialistischen und säkularen alten Garde. Man braucht nur die Abendnachrichten in Israel zu verfolgen, um zu sehen, dass die Massen, die gegen die Justizreform protestieren und randalieren, überwiegend aus aschkenasischen Säkularisten bestehen, die mit der säkularen Ideologie der Linken geboren und aufgewachsen sind.

Die Justizreform ist in Wirklichkeit ein Feigenblatt für die zugrunde liegende soziale, ethnische und religiöse Spaltung, die nach 70 Jahren endlich zum Vorschein gekommen ist. Die Linke weiss, dass der rechte Geist nie wieder in die Flasche zurückkehren wird, und hat sich daher der Taktik ihrer Vorfahren zugewandt: Gewalt, Unruhen und der Aufruf zur Revolution durch ihre Sprachrohre wie die ehemaligen Premierminister Ehud Barak, Ehud Olmert und Yair Lapid – die alle zweifelhafte politische Erfolge vorweisen können.

Die Auswirkungen nach dem Sündenfall

Der Sturz der alten Garde Israels hat weitreichende Auswirkungen auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens und wird diese auch weiterhin haben. Für den Verteidigungssektor birgt die derzeitige Krise jedoch auch einen potenziellen Segen. Das israelische Militär ist nicht einfach nur eine Verteidigungsorganisation wie in jedem anderen Land; es ist vielmehr mit dem Gefüge der israelischen Gesellschaft verwoben, da es als Teil der Erschaffung des “neuen Juden”, des “kämpfenden Juden”, der nie wieder in eine Gaskammer gehen würde, gegründet wurde. Die Einberufung in die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) wurde nicht nur als Ehrensache, sondern auch als nationale Pflicht angesehen, die für jeden Sohn Israels seit der Gründung des Landes verbindlich ist.

In den letzten Jahrzehnten wurde dieses Engagement jedoch ausgehöhlt, und die persönliche Befriedigung hat einen Grossteil des ideologischen Engagements ersetzt. In der IDF wie auch in anderen Verteidigungszweigen boten die Nachrichtendienste und insbesondere die technologischen Abteilungen Prestige ohne physisches Risiko und eine Karriere in einem lukrativen zukünftigen Hi-Tech-Unternehmen.

Die abgelehnten Minderheiten, denen trotz ihrer Fähigkeiten die Türen verschlossen blieben, wie sephardische Juden aus der Peripherie Israels und national-religiöse Jugendliche, strömten in die Spezialeinheiten und in die Offizierslehrgänge.

Die Auswirkungen einer kalkulierten “Dienstverweigerung” hätten zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Genau wie Menschen verabscheuen auch Organisationen Veränderungen und sind in der Regel nur dann bereit, sich dem schmerzhaften Prozess zu unterziehen, wenn sie mit einer Katastrophe konfrontiert werden. Eine Veränderung bedeutet Verschiebungen in der Organisation und allgemeine Ungewissheit, wo man nun im Organigramm platziert ist. Im Falle der IDF und aller anderen Verteidigungsbereiche wird sich dies auf Aspekte wie die Notwendigkeit der Diversifizierung des Führungspersonals auswirken, was wiederum neue Denkmuster und Problemlösungsansätze mit sich bringen dürfte. Frisches Blut bedeutet, dass alte politische und kommerzielle Interessen, die in einem Teufelskreis politischer und ethnischer “Old Boys”-Netzwerke stagnierten, über Bord geworfen werden – was besonders in der Luftwaffe deutlich wird.

Neben den fachlichen Qualifikationen gehören zu den strukturellen Veränderungen auch ideologische Verpflichtungen. Loyalität gegenüber den gewählten Regierungsinstitutionen wird zweifellos ebenfalls eine Rolle spielen.

Ron Schleifer, PhD. ist Dozent an der School of Communication der Universität Ariel, Israel. Erstmals veröffentlicht auf Englisch beim Research Institute for European and American Studies. Übersetzung Audiatur-Online.

6 Kommentare

  1. Urs Lustenberger hat recht, wenn er mich indirekt darauf hinweist, dass Religiöse nicht notwendigerweise gleich ultraorthodox sind. Er hat auch recht damit, dass es für Ultraorthodoxe „schon längere Zeit“ (konkret: seit gut zwei Jahrzehnten) spezielle Einheiten im Militär gibt. Er möchte damit und mit seiner mangelnden Differenzierung von Nationalreligiösen und Ultraorthodoxen den Eindruck erwecken, dass es auch für die Charedim die Wehrpflicht gäbe. Das ist jedoch keineswegs der Fall, denn wer in einer Jeschiwa studiert und keinem anderen Beruf nachgeht, ist nach wie vor – seit der Gründung des Staates Israel – von der Wehrpflicht befreit; der Dienst in den Charedi-Einheiten beruht nach wie vor auf Freiwilligkeit. Eine ursprünglich zeitlich begrenzte Übergangsregelung, die junge ultraorthodoxe Männer, die in Jeschiwas den Talmud studieren, vom Wehrdienst befreit, wurde vom Obersten Gerichtshof bereits 15mal verlängert, was in der aktuellen Regierung für Unruhe sorgt, weil die Ultraorthodoxen diese Befreiung endlich gesetzlich zugesichert haben wollen, während diejenigen, die tatsächlich Wehrdienst leisten, sie als ungerechtfertigt ansehen.
    Ist Ihnen das für’s Erste genug an wesentlichen Grundkenntnissen über Judentum, jüdische Religion und Geschichte?

  2. Brillanter Artikel von Ron Schleifer, der die gesamte Thematik zur Justizreform in Israel ziemlich ausführlich beleuchtet! Herr Wenninger fragt: Warum brauchen denn die Religiösen nicht zur Armee zu gehen: Antwort: Religiöse, oder Nationalreligiöse Juden gehen selbstverständlich zur Armee, ein grosser Teil von diesen dienen in Kampfeinheiten, zB. Golani, Givati, Nahal, Kfir, bei den Fallschirmjägern, oder Sayert Matkal. Für ultraorthdoxe Juden, den Charedim gibt es schon längere Zeit Charedi Einheiten, zB. Netzah Yehuda, Nahal Charedi. Zudem ist zu erwähnen, dass es unzählige linke Israelis gibt, welche aus verschiedenen ideologischen Gründen auch keinen Wehrdienst leisten wollen! Wenn man über dieses komplexe Thema Israel, Justizreform, Militär etc. mitreden möchte, solte man schon einige wesentliche Grundkenntnisse über Judentum, jüdische Religion und Geschichte besitzen. Noch eine Anmerkung zu Susanna: Die USA sind nicht nur Heimat für “liberale Juden,” dort existieren auch einige grosse orthodoxe und Charedi Gemeinden. Ein Teil der sogenannten linksliberalen und progressiven Juden in den USA sind Geldgeber, die die anti Netanjahu Regierungs Demonstrationen grosszügig unterstützen.

  3. @ Susanna
    Glücklicherweise ist Israel (noch) keine Theokratie, denn Theokratie und Demokratie schließen sich gegenseitig definitiv aus. Sie haben aber recht damit, dass die theokratischen – und damit die antidemokratischen – Tendenzen in Israel zunehmen.
    Damit hängt auch das Problem des Zionismus zusammen, in dem religiöse und nationale Zielsetzungen teils konkurrieren, teils zusammenarbeiten. Letztlich haben aber beide mehr oder weniger starke antidemokratische Tendenzen. Denn “ein jüdischer Staat für Jüdinnen und Juden” hat naturgemäß, um es zurückhaltend auszudrücken, wenig Interesse an anderen religiösen und nationalen Gruppen. Diese Gruppen machen aber einen wesentlichen Teil der Einwohner dieses Staates aus. Je stärker also die derzeitige israelische Regierung die religiös-nationale Karte spielt, desto mehr Konflikte handelt sie sich innen- wie außenpolitisch ein.

  4. Herr Wenninger,
    Israel ist eine Theokratie. Ein jüdischer Staat für Jüdinnen und Juden. Das ist der Kern des Zionismus. Endlich sicher und öffentlich die eigene Religion ausüben können. In allen Facetten, von ultraorthodox bis egalitär. Und es gibt viele Facetten in der jüdischen Religion. Weil aber Israel ein jüdischer Staat ist, wird er angegriffen.

  5. Wenn das wirklich so wäre, wie Ron Schleifer sagt: “Die Einberufung in die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) wurde nicht nur als Ehrensache, sondern auch als nationale Pflicht angesehen, die für jeden Sohn Israels seit der Gründung des Landes verbindlich ist.” – warum brauchen dann die Religiösen nicht zur Armee zu gehen?
    Und weil wir gerade bei den Religiösen sind: Gerade Demokratien legen – zumindest theoretisch – Wert auf eine Trennung von Religion und Staat. In Israel findet gerade das Gegenteil statt. Und da soll man sich keine Sorgen um die israelische Demokratie machen?

  6. Das ist sicher ein wichtiger Bestandteil des Problems aber dennoch nur ein Teil. Die USA als Heimat liberaler Juden, die ganz bestimmt keine Sozialisten leider, eher woke Sozialdemokraten und liberale konservative, haben andere politische Interessen. Israel und die USA gehen verschiedene Wege. Für die liberalen Kräfte ist das sicher ein Machtverlust. Aber auch Angst behaftet. Das würde ich respektieren.
    Für Israel ist es sinnvoller, sich mit Russland und China gut zu stellen. China unterstützt die rechtsradikalen Hamas, die plpf und andere schlimmere. Das ist eine Bedrohung. Ein liberaler Jude aus New Yor wird aber jede Annäherung als Verrat auffassen.
    Ich denke das ist ein Aspekt der mir zu kurz kommt. Und jede Trennung von den USA ist für liberale Juden beängstigend.
    Und bitte hören sie auf, meine hochverehrte Genossin Golda Meir zu diskriminieren. Die Frau ist eine Heldin. Ohne Golda Meir würde Israel nicht mehr existieren. Es ist Zeit das auch liberale woke das begreifen.

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