Wo sonst süße Katzenvideos die Runde machen oder Kochrezepte für süße Deserts, können auch Holocaust-Überlebende von dem Horror des Nationalsozialismus sprechen. Auf der meistens von Jugendlichen frequentierten Internet-Plattform TikTok lädt die Schweizer Gamaraal-Stiftung seit einiger Zeit Augenzeugenberichte von Überlebenden der Shoah hoch. Das Interesse ist groß, der Erfolg ist überwältigend.
Die 91-jährige Nina Weil spricht im kurzen Video-Clip von Josef Mengele, dem Lagerarzt im KZ Auschwitz-Birkenau, dem sie persönlich begegnete. Sie war zehn Jahre alt, und Mengele entschied über Leben oder Tod der Häftlinge: Zeigte er nach links, ging es in die Gaskammer, zeigte er nach rechts, war die Person arbeitsfähig und durfte weiterleben. „Ich weiß nicht, es war ein Engel bei mir, oder irgend etwas“, erzählt Nina Weil. „Ich konnte nicht gut Deutsch, aber ich sagte zu Mengele: Meine Mutter ist gestorben, ich möchte noch einmal Prag sehen.“ Da ließ er sie leben. Das Video der alten Dame findet sich auf TikTok, der Plattform, die vor allem unter Jugendlichen angesagt ist. Warum nicht auch die Berichte der Holocaust-Überlebenden auf dieser Plattform veröffentlichen?, sagten sich die Initiatoren der Gamaraal-Stiftung, die sich für die letzte Generation der Zeugen einsetzt und ihre Botschaft verbreitet. Der Erfolg gibt ihnen Recht. Allein Nina Weils Bericht wurde 1,9 Millionen mal angeschaut, 260.000 Menschen hinterließen ein Like.
Auf die Idee, die Videos, die sich sonst in voller Länger auf der Webseite last-swiss-holocaust-survivors.ch finden, auch auf TikTok zu veröffentlichen, kam Alisa Winter, der Tochter der Gamaraal-Gründerin Anita Winter. Das war im Januar 2022. Mittlerweile hat der Account „@gamaraal“ über 6.000 Follower, die rund 80 Videos haben 370.000 Likes, und Tausende vor allem junge Zuschauer kommentieren, diskutieren und fragen nach. Wo es sonst um Schulprobleme und Beziehungsstress geht, um lustige Mutproben, süße Tiervideos oder Styling-Tipps, wird hier nachgedacht, nachgefragt und geweint. Über das, was die letzten noch lebenden Menschen berichten, die die Grausamkeiten der Nazis noch selbst gesehen haben.
In einem anderen Video zeigt Nina Weil die Häftlingsnummer, die ihr im Konzentrationslager in ihren Unterarm tätowiert wurde. Der Clip ist nicht lang, wie alle Videos auf TikTok nur einige Sekunden lang. Doch diese Sekunden haben es in sich. „Wir verloren unsere Namen, wir hatten nur noch unsere Nummer“, sagt Weil schlicht. Menschen wie sie gibt es nicht mehr viele. Ein Zuschauer schreibt überwältigt: „Das ist wirklich unglaublich. Vielleicht war Ihre verstorbene Mama der Schutzengel. Diese Zeit darf sich nie, nie wiederholen.“ Ein anderer: „Erinnern heißt Widerstand.“ Manche kommentieren, dass sie das Thema Holocaust gerade in der Schule durchnehmen und auf diese Videos gestoßen sind. Andere schreiben emotionale Bekundungen wie: „Das bricht mir das Herz.“ Manche fragen, wo man die ausführlichen Videos sehen kann, und wiederum viele Kommentare bekommen Hunderte und Tausende Likes.
Holocaust-Berichte passend auf TikTok-Aufmerksamkeitsspanne gestutzt
Der 86-jährige Ivan Lefkovits beantwortet in seinem Statement die Frage „Wieso hasse ich die Deutschen nicht?“ Als Deutschland zerstört war, habe sich das für ihn seltsam gut angefühlt, gesteht er. „Es ist nicht besonders edel, so zu denken, aber so war es.“ Er stellte für sich fest: „Die Deutschen wollten den totalen Krieg, und den haben sie bekommen. Ich brauchte sie nicht zu hassen.“
Unter den Hashtags #holocaust und #holocaustsurvivor finden sich weitere Videos der Gamaraal-Stiftung, meistens von weniger als einer Minute Länge. Die Aufmerksamkeitsspanne bei TikTok ist eben sehr kurz. Unter jedem Video ist der Hinweis „Lerne Fakten zum Holocaust“ und dazu ein Link zu einer Info-Webseite des World Jewish Congress auf Deutsch.
Die Gamaraal-Stiftung wurde 2014 ins Leben gerufen und leistet Unterstützung für Holocaust-Überlebenden, sie will ihnen eine Stimme geben. Durch Videos, die online und immer wieder in Ausstellungen zu sehen sind, durch Bücher und Vorträge in Schulen. Ziel der Stiftung ist es aber auch, diesen Menschen auf unterschiedliche Weise zu helfen und, wo nötig, finanzielle Unterstützung zu geben. Ihr Name ist gebildet aus den Anfangsbuchstaben der vier Kinder der Gründerin. „Wir befinden uns an einem historisch entscheidenden Moment“, sagt Anita Winter. „Wir dürfen vor der Tatsache nicht die Augen verschließen, dass immer weniger Holocaust-Überlebende unter uns sind.“
Über die Idee ihrer Tochter, auch das Jugend-Portal TikTok zu nutzen, freut sie sich. „Es ist so berührend, weil es hier einen Austausch zwischen den Generationen gibt, zwischen Jugendlichen und älteren Zeitzeugen.“ Sie fügt hinzu: „Wir bekommen sehr viel Lob für den Mut, TikTok ist ja eigentlich eine Plattform für junge Menschen.“ Die meisten Zuschauer des Kanals (30 Prozent) sind laut TikTok-Statistik zwischen 25 und 34 Jahre alt, doch darauf folgen bereits die 18-24-Jährigen mit 26 Prozent. Sowohl die Menschen zwischen 35 und 44, als auch die zwischen 45 und 54 Jahre sind mit 15 Prozent vertreten, und 14 Prozent der Zuschauer sind über 55 Jahre alt. Die deutliche Mehrheit von fast 80 Prozent sind dabei weiblich. Auf die Frage, woher das große Interesse unter den jungen Menschen kommen mag, sagt Winter: „Ich denke, die Jugendlichen realisieren, dass Holocaust-Überlebende damals in ihrem Alter waren. Das erzeugt eine starke Verbindung.“
Deutschland steht an der Spitze der Länder mit den meisten Zugriffen. Rund 63 Prozent der Klicks kommen von hier, mit deutlichem Abstand gefolgt von der Schweiz mit 11 Prozent. Nach Wien und Zürich steht Berlin an dritter Stelle der Städte mit den meisten Abrufen. Einzelne Videos wurden für über 3.000 Stunden bereits angeschaut, zeigt die Statistik.
Winters Vater Walter Strauss erlebte die Reichspogromnacht 1938 in Berlin. Da war er 16 Jahre alt. Auch sein Zeugnis ist in einem Video auf TikTok zu sehen. Strauss verstarb 2019. „Mein Vater und zahlreiche Holocaust-Überlebende hinterließen uns nicht nur ihre Geschichten und damit ihr Zeitzeugnis, sie unterließen uns vor allem auch die Verantwortung, sorgsam mit der historischen Erfahrung umzugehen“, sagt Winter. „Mein Vater hat immer gesagt: ‚Wir dürfen nie vergessen, was passiert ist.’“ Und das auch bei TikTok.
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