Beleidigungen, Angriffe mit Baseballschlägern, Einschusslöcher in einer Tür: Juden in Deutschland bleiben Zielscheibe von gefährlichem Hass und Vorurteilen. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) registrierte für 2022 einen Höchststand an Gewalttaten – und zugleich weniger antisemitisch motivierte Vorfälle insgesamt. Am Dienstag stellte Rias in Berlin einen entsprechenden, allerdings nicht repräsentativen Bericht vor.
von Leticia Witte
Demnach stieg die Zahl von gemeldeten Fällen extremer Gewalt auf den höchsten Stand seit Beginn der Erfassung 2017. Dazu zählen körperliche Angriffe und Anschläge mit lebensgefährlichen oder anderen schweren Folgen beziehungsweise der Versuch. Die Zahl antisemitisch motivierter Vorfälle gibt Rias mit 2.480 an. 2021 waren es 2.773, im Jahr davor noch 1.957 Fälle.
Diese Entwicklung sei damit zu erklären, dass die Corona-Pandemie und der arabisch-israelische Konflikt keine so große Rolle mehr gespielt hätten wie 2021. Zugleich bleibe israelbezogener Antisemitismus auf hohem Niveau, hieß es. 2022 sei auch Russlands Krieg gegen die Ukraine Anlass zu Judenfeindschaft gewesen.
Der Bericht dokumentiert insgesamt 9 Vorfälle extremer Gewalt, 56 Angriffe, 186 gezielte Sachbeschädigungen, 72 Bedrohungen, 1.912 Fälle verletzenden Verhaltens (davon 426 Versammlungen) sowie 245 Massenzuschriften – etwa E-Mails, die sich an einen größeren Kreis richten.
Allein 4 der 9 Fälle extremer Gewalt kamen aus Nordrhein-Westfalen. Der Bericht verweist auf November 2022, als es in Dortmund einen versuchten Brandanschlag auf die Jüdische Gemeinde gab. Kurze Zeit später wurde in Bochum ein Molotowcocktail auf die Synagoge der Jüdischen Gemeinde geworfen, der sein Ziel verfehlte und eine Schule traf. Einen Tag später wurden Einschusslöcher an der Eingangstür des Rabbinerhauses der Alten Synagoge in Essen entdeckt.
Im Mai 2022 wurde ein Brandanschlag auf das Friedhofsgebäude der Synagogen-Gemeinde Köln verübt. Hinzu kommt ein Angriff von fünf bis zehn Personen auf zwei junge Männer in Berlin: Die Gruppe attackierte sie demnach mit Baseballschlägern, Messern und Pfefferspray, weil sie „Free Israel“ gerufen hätten. Rias listet auch zu den anderen Kategorien Beispiele auf, etwa die Antisemitismus-Vorwürfe auf der documenta in Kassel.
„Antisemitische Vorfälle finden häufig an Orten statt, die Betroffene regelmäßig aufsuchen oder die diese in ihrem Alltag gar nicht meiden können“, betont Rias: Wohnumfeldumfeld, Verkehrsmittel, Geschäfte, Internet. Eine Folge: Viele versuchen, nicht als Juden erkennbar zu sein, oder ziehen sich aus Sozialen Medien zurück.
Bei über der Hälfte der Fälle sei der politische Hintergrund unklar. „Unter jenen Vorfällen, die eindeutig einem politischen Hintergrund zugeordnet werden konnten, war ein verschwörungsideologischer Hintergrund 2022 erstmals die häufigste Kategorie.“
An die Meldestellen in elf Bundesländern können sich Betroffene oder Zeugen wenden. Rias betont, dass sich die Datengrundlage für 2022 von der der Vorjahre unterscheide. So hätten sechs neue Meldestellen erstmals systematisch Vorfälle dokumentiert; Brandenburger Daten flössen dagegen nicht mehr ein.
Die Meldestellen registrieren auch Vorfälle, die keine antisemitisch motivierten Straftaten sind. Deren Zahl sank laut Bundeskriminalamt 2022 um rund 13 Prozent auf 2.641 Fälle – 88 Gewaltdelikte darunter seien aber kein Grund zur Entwarnung, hieß es. Der überwiegende Teil der Taten wird Rechtsextremisten zugerechnet. Zugleich steige die islamistisch geprägte Judenfeindschaft.
Rias geht von einer großen Dunkelziffer antisemitischer Vorfälle aus. Auch seien die Zahlen nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. „Ziel des vorliegenden Berichts ist es vor allem, die alltägliche Dimension von Antisemitismus in Deutschland zu verdeutlichen.“
Zum Jahresbericht 2022 des Bundesverbands RIAS e.V. sagt RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı:
„Die Diskussionen um das Olympia-Attentat von 1972 haben im Sommer 2022 gezeigt, dass eine antisemitische Abwehr von Erinnerung sich umgehend Bahn brechen kann, wenn es um Israel bzw. um Juden geht. RIAS Bayern hat dies etwa in Sozialen Medien und in von bayerischen Zeitungen abgedruckten Leserbriefen beobachtet. Insbesondere bei der Frage der Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen der ermordeten Sportler wurde der Antisemitismus deutlich. In der antisemitischen Zuschreibung, dass ‚die Juden‘ doch wieder nur Geld wollten, hallte auch der Antisemitismus nach und wegen Auschwitz wider, der einen ‚Schlussstrich‘ verlangt.“
Der geschäftsführende Vorstand des Rias-Bundesverbands, Benjamin Steinitz, forderte, dass die Bundesländer mögliche Sicherheitsmängel in jüdischen Gemeinden umgehend beheben müssten. Auch müsse die Bekämpfung von Judenhass längerfristig finanziert sein und dürfe nicht als „Teilzeitaufgabe“ angesehen werden.
Der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, betonte, dass Judenfeindschaft nicht verschwinde, bloß weil bestimmte Gelegenheiten, ihn auszudrücken, nicht mehr im Fokus stünden. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, teilte über Rias mit: „Wissen, wie und wo Antisemitismus auftritt, ist immer der Ausgangspunkt allen Engagements gegen Antisemitismus.“ Auch er forderte eine finanzielle Absicherung.
Den Jahresbericht des Bundesverbands RIAS e.V. als PDF herunterladen.
KNA/lwi/jps/joh/Aud
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-06/antisemitismus-jahresbericht-benjamin-steinitz
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