Jüdischer Friedhof Weißensee – Trotz Holocaust und Judenverfolgung gibt es ihn immer noch

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Jüdischer Friedhof Weissensee. Foto IMAGO / Jürgen Ritter
Jüdischer Friedhof Weissensee. Foto IMAGO / Jürgen Ritter
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Trotz Holocaust und Judenverfolgung gibt es ihn immer noch: Der Jüdische Friedhof Weißensee in Berlin ist ein Stück deutsch-jüdischer Geschichte. Viele Menschen begeben sich hier auf Spurensuche.

von Nina Schmedding

Wer den Grabstein von Emma Glaser sucht, muss sich durch wucherndes Gras kämpfen und über umgestürzte Grabsteine klettern. Schließlich wird er in einem hinteren Winkel des riesigen Friedhofs fündig. Fliederbüsche wachsen auf dem Grab. Hinter grünen Blättern und Zweigen lässt sich behutsam die Inschrift freilegen. Dort steht in großen Lettern: „Hier ruht unser liebes Mütterchen Emma Glaser, geb. Meyer, geboren 1859, gestorben 1930“. Das war vor 73 Jahren. Emma Glaser starb vor der Nazizeit.

Die meisten Menschen, die auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee im Osten Berlins bestattet sind, bekommen selten Besuch. Es ist ein Friedhof voller Toter, deren Angehörige meist seit Jahrzehnten nicht mehr in Berlin oder Deutschland leben, weil sie in der Nazizeit entweder ermordet wurden – oder emigriert sind. So wie Ernest Glaser, der 1939 – zwei Monate vor Ausbruch des Krieges – mit seinen Eltern Moritz und Erna nach Shanghai fliehen konnte. 15 Jahre war er damals alt. Heute ist er 99 und lebt seit 75 Jahren in der Nähe von San Francisco.

Der hochbetagte Mann war seit Jahrzehnten nicht mehr in Deutschland. Er kann sich an seine „Omi Emma“ aber noch erinnern. Als sie starb, war er sechs Jahre alt. Oft war er mit seinen Eltern in Weißensee, meistens sonntags, rund um die Geburtstage seiner toten Verwandten – so liegt auch sein Großvater mütterlicherseits, Max Friedländer, hier begraben. Vor ihren Besuchen kauften er und seine Eltern Blumen in einem kleinen Lädchen in Charlottenburg. „Wir durften durch die Hintertür hinein und bekamen dann unterm Tisch unsere Blumen“, erzählt er von damals. Denn sonntags hatte der Laden eigentlich zu.

Mehr als 115.000 Menschen sind auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee bestattet, dem mit 42 Hektar größten Jüdischen Friedhof Europas, auf dem noch Beerdigungen stattfinden. Etwa 30 Menschen werden pro Jahr noch auf dem Friedhof bestattet, darunter viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die in den 1990er Jahren nach Deutschland kamen. Ein Kindergrab mit einem rothölzernen Marienkäfer zeugt davon, dass es hier auch Tote gibt, die erst kürzlich hier ihre letzte Ruhe gefunden haben.

Wer den Friedhof über den Haupteingang betritt, erblickt zunächst ein zentral angelegtes Mahnmal in einem Rondell, das an die sechs Millionen Juden erinnert, die im Holocaust ermordet wurden. Dort stehen die Namen etlicher Konzentrations- und Vernichtungslager, in denen Juden aus ganz Europa und Tausende aus Berlin starben: Treblinka, Stutthoff, Theresienstadt, Auschwitz.

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Friedhof Haupteingang. Foto IMAGO / Jürgen Ritter

Es ist ein Gelände mit prachtvollen Bäumen und breit angelegten Platanen, Linden- und Ulmenalleen. Gleichzeitig wirkt es verwunschen. Die Vögel zwitschern jetzt im Mai. Ansonsten ist es still. Wer hier begraben wird, bleibt bis in alle Ewigkeit: Die Grabstätte gilt im jüdischen Glauben als unantastbar und wird folglich niemals neu belegt. 

Herrschaftliche Familiengruften, mit Efeu überwucherte oder verwitterte Steine, Soldatengräber: Der Friedhof lädt zu Entdeckungen und langen Spaziergängen ein. Weil das Gelände so unübersichtlich ist, haben sich in der Nazizeit auch immer wieder untergetauchte Juden vor der Gestapo hier versteckt.

Die beeindruckende Anlage, die 1880 gegründet wurde, ist eng mit der Geschichte Deutschlands verbunden. Zahlreiche Prominente sind hier begraben, die das Land vor den 1930er Jahren geprägt haben und deren Erbe bis in die Gegenwart hinein Spuren hinterlassen hat. Wie etwa Berthold Kempinski, der Gründer der gleichnamigen bekannten Hotelkette. Der Weinhändler eröffnete 1889 ein Restaurant mit mehreren Sälen, das seinerzeit das größte in Berlin war. 

Oder die Eltern von Nesthäkchen-Autorin Else Ury, der beliebtesten Jugendbuchautorin der 1920er Jahre: Emil und Franziska Ury sind in Weißensee bestattet, die Autorin selbst wurde in Auschwitz ermordet. Ein großes Familiengrabmal erinnert an Verleger Samuel Fischer, der 1896 den Fischerverlag in Berlin gründete.

Für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs wurde ein eigenes Areal angelegt. In Reih und Glied stehen die bescheiden aussehenden Grabsteine nebeneinander. Eine Inschrift gedenkt der Toten jüdischen Glaubens, die ihr Leben für Deutschland ließen – 12.000 Menschen waren es. 

Andere Grabsteine zeugen von tragischen Lebensgeschichten während der Nazizeit: etwa jener des Berliner Ehepaars Charlotte und Leopold Jacob, das als gemeinsames Sterbedatum den 21. Mai 1940 auf dem Grabstein eingemeißelt hat. Sie nahmen sich – wie tausende andere Juden – aus Verzweiflung gemeinsam das Leben. 

Aus dem Gebäude der Friedhofsverwaltung treten ein Mann und eine Frau im mittleren Alter. Sie hält einen Zettel in der Hand, auf dem das Grab eingezeichnet ist, das sie suchen. Immer wieder kommen Menschen aus aller Welt auf den Friedhof. Sie wollen ihre deutschen Wurzeln finden, die vor Jahrzehnten von den Nazis abrupt gekappt wurden. 

Die Suche gestaltet sich auf dem riesigen Friedhof als aussichtslos, wenn man nicht genau weiß, wo das Grab liegt. Ernest Glaser erinnert sich, dass auch seine Eltern manchmal in die Verwaltung gingen, um herauszufinden, wo Grabstätten entfernter Verwandter waren.

Bedrückende Besuche: Als Kind waren ihm die Friedhofsbesuche nicht besonders angenehm, erzählt Glaser rückblickend. Dennoch habe er „ein Gefühl der Ewigkeit und Zugehörigkeit“ entwickelt. „Meine Eltern legten Wert darauf, mit mir über meine Beziehung zu jedem der Verstorbenen zu sprechen. Obwohl sie Blumen mitbrachten, baten sie mich, einen kleinen Kieselstein, eine orthodoxe jüdische Tradition, zu hinterlassen, um anzuzeigen, dass ich zu Besuch gekommen war.“ 

Ein Ritual, das auch im Jahr 2023 noch lebendig ist: Immer wieder sieht man kleine Steine auf den Grabsteinen liegen, die signalisieren, dass jemand da gewesen ist. 15 Jahre nationalsozialistischer Schreckensherrschaft und Judenverfolgung: Das größte Wunder dieses Friedhofs ist vielleicht, dass er das überstanden hat.

KNA/nsc/aps/pko/cas