Leica und die Nazis – War Ernst Leitz ein Widerstandsheld?

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Zur ARTE-Sendung Die Nazis, der Rabbi und die Kamera Der Fotograf und Rabbiner Frank Dabba Smith hat eine vielschichtige Beziehung zu Deutschland: Das Land ist für den Tod seiner Verwandtschaft in Polen verantwortlich, entfachte aber auch seine Leidenschaft für die Fotografie. Bild: © Andy Lehmann/Florianfilm , ZDF
Zur ARTE-Sendung Die Nazis, der Rabbi und die Kamera Der Fotograf und Rabbiner Frank Dabba Smith hat eine vielschichtige Beziehung zu Deutschland: Das Land ist für den Tod seiner Verwandtschaft in Polen verantwortlich, entfachte aber auch seine Leidenschaft für die Fotografie. Bild: © Andy Lehmann/Florianfilm , ZDF
Lesezeit: 8 Minuten

Dass der damalige Chef des weltbekannten deutschen Kamera-Herstellers Leica, Ernst Leitz II, in der Zeit des Nationalsozialismus Juden geholfen hat, ist nicht sehr bekannt. Nun verhilft eine Arte-Dokumentation dieser Tatsache eine grössere Aufmerksamkeit.

Lange Zeit war die Geschichte um das Verhalten von Ernst Leitz II (1871-1956) während des Nazi-Regimes so gut wie unbekannt. Sein Unternehmen Leica ist in aller Welt bekannt, die von dessen Mitarbeiter Oskar Barnack entwickelte Kleinbildkamera mit Wechselobjektiven war ab 1925 eine weltweite Sensation. Vorbei war die Zeit der klobigen Plattenkameras, die Leica ermöglichte Fotos in allen Situationen und veränderte die Welt der Fotografie und der Presse. War einer der Gründerväter dieses deutschen Unternehmens ein Juden-Retter?

Es war der Londoner Rabbiner Frank Dabba Smith, selbst Fotograf und Leica-Enthusiast, der diesem Verdacht auf den Grund ging. Seine Recherchearbeit ist die Grundlage für die ARTE-Dokumentation „Die Nazis, der Rabbi und die Kamera“; die am 18. Mai um 20.15 Uhr ausgestrahlt wird. Schon 2002 veröffentlichte der gebürtige Amerikaner einen ersten Artikel mit dem Titel „Ernst Leitz of Wetzlar and Altruism during the Holocaust“. Bald machten Gerüchte vom „anderen Schindler“ (Die Welt) die Runde, die Zeitungen titelten mit „Der gute Mensch von Wetzlar“ (Die Welt), „Vater Courage“ (Frankfurter Rundschau), „Der Leica-Schindler“ (Stern), „Leitz’ Liste“ (Süddeutsche Zeitung), sogar der Begriff eines „Leica Freedom Train“ machte die Runde.

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Ernst Leitz senior (li.) mit Oskar Barnack 10/89 teu Ernst Leitz und Oskar Barnack auf einer historischen Fotografie mit der Ur-Leica von 1914. Foto IMAGO / teutopress

Anlass war damals die posthume Auszeichnung der amerikanischen Anti Defamation League (ADL) an Ernst Leitz II im Jahr 2007. Damit trat der 1956 verstorbene langjährige Leica-Chef tatsächlich in eine Reihe mit Menschen wie Oskar Schindler und Jan und Miep Gies, die Anne Frank und ihre Familie beschützt hatten. Was ist zu diesem Ruhm zu sagen, und vor allem: Warum ist diese Episode deutscher Wirtschaftsgeschichte eher unbekannt? Aufklärung will der Film des deutschen Regisseurs Claus Bredenbrock bringen.

Spuren der Überlebenden bis in die heutigen USA

Schwarz-Weiss-Aufnahmen eines Geschäftes auf der „Zeil“ sind zu sehen, die Haupteinkaufsstrasse in Frankfurt am Main. In den 30er Jahren verkaufte hier die Familie Ehrenfeld unterschiedliche Dinge, unter anderem Kameras, vor allem Leicas. Die Rassengesetze der Nationalsozialisten bedrängten auch das Leben der Juden Heinrich Ehrenfeld und seiner Frau Alice immer mehr. Der Leica-Unternehmer Ernst Leitz aus Wetzlar nahm sich – wie in so vielen anderen Fällen, wie sich heute herausstellt – der Probleme dieser Familie an. Leitz übernahm das Inventar des Geschäftes und stattete die Familie im Gegenzug mit Leica-Kameras aus, so dass sie in die Vereinigten Staaten auswandern und dort einen neuen Laden eröffnen konnten. In der Progromnacht wurde der Laden der Ehrenfelds tatsächlich zerstört, Heinrich Ehrenfeld und sein Bruder wurden ins KZ Buchenwald gebracht. Ihr ganzer Besitz wurde ihnen abgenommen, doch dann durften sie ausreisen.

„Leitz half nicht nur meinem Grossvater dabei, Waren zu bekommen, sondern er bildete alle aus, damit sie Jobs bekamen“. Es ist Jill Enfield, Enkelin jenes Heinrich Ehrenfeld, die der Regisseur Claus Bredenbrock zusammen mit Rabbi Smith nahe New York aufsuchte, die hier zu Wort kommt. Sie selbst würde vielleicht gar nicht leben, wenn Ernst Leitz kein couragierter Freund der Juden und widerspenstiger Feind der Nazis gewesen wäre. Ehrenfelds Sohn Kurt schrieb Leitz ein Empfehlungsschreiben aus, so dass er im grössten Londoner Foto-Geschäft anfangen konnte; seinen Bruder Paul stellte Leitz in Wetzlar ein. „Leitz sorgte dafür, dass meine Familie zurecht kam“, sagt Jill Enfield, die selbst Fotografin geworden ist. Ihr Vater Kurt Ehrenfeld benannte sich in den USA in Enfield um.

Es sind diese und andere Geschichten, die die Dokumentation „Die Nazis, der Rabbi und die Kamera“ nacherzählt, auch wenn sie in 45 Minuten leider nur angerissen werden können. Wer sich tiefer mit dem Thema befasst, merkt bald: Hier weichen die Umstände ein wenig ab von der klassischen Geschichte vom deutschen Grossunternehmen, das sich bereitwillig auf Linie der NSDAP brachte und die damit verbundenen Vorteile genoss. Ein zweiter Schindler war Leitz nicht, aber das behaupten auch weder der Protagonist des Films, der fotoverrückte Rabbi Smith, noch der Regisseur Bredenbrock.

vlnr Claus Bredenbrock Frank Smith Oliver Nass 03 Credit Joern Schumacher
vlnr Claus Bredenbrock – Frank Smith – Oliver Nass 03 – Foto Jörn Schumacher

„Widerlicher Demokrat“

„Mein Urgrossvater konnte sich nicht dagegen verwehren, dass die Produktion seines Werkes irgendwann ausschliesslich militärisch ausgerichtet war“, sagt Dr. Oliver Nass, Urenkel von Ernst Leitz II und Vorsitzender der Ernst-Leitz-Stiftung, im Film. Auch dass bei grossen Firmenereignissen die Nazi-Symbole in der Firma aufgehängt werden mussten, konnte Leitz nicht verhindern. „Ein Minimum an Fassade war notwendig, um dahinter weiterhin Gutes bewirken zu können“, sagt Nass.

So ist das Verhältnis zwischen Leitz und den Nazis ein sehr ambivalentes. „Ein Drahtseilakt sowohl für Leitz als auch für die Nazis“, sagt Rabbi Smith. Die Leitz-Werke waren als Lieferant von Militäroptik im Rahmen der Aufrüstung für die Nazis enorm wichtig. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte Leitz Optik für die Armee gefertigt: Zielfernrohre, Marinegläser, U-Boot-Periskope. In den 1930er Jahren besass das Unternehmen Experten für die Produktion von kriegsrelevanter Technik, die es sonst nirgendwo gab. Zudem war Leitz ein wichtiger deutscher Exporteur, der wichtige ausländische Devisen ins Land brachte. „Die Nazis haben Leitz gehasst“, sagt Smith. „Das geht aus den Akten hervor.“ Der wiederum nannte die Nazis „braune Affen“ und „Verbrecher“. Das Damoklesschwert der Enteignung schwebte allerdings ständig über dem Seniorchef. Die Nazis planten „diesen widerlichen Demokraten“ endgültig nach Ende des Krieges zu liquidieren, auch das besagen die Akten.

Der Wetzlarer Historiker Bernd Lindenthal hat für den Verein „Wetzlar erinnert“ zusammengetragen, was über Leitz und seinen Umgang mit den Nazis wissenschaftlich zu finden ist. Demnach gehörte der überzeugte Demokrat, der die Weimarer Republik propagierte, schon 1918 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Demokratischen Partei, die von den Nazis verboten wurde. Als 1933 mehrere Juden und Demokraten grundlos verhaftet wurden, darunter Leitz‘ Parteifreund Nathan Rosenthal, erwirkte Leitz beim Landrat deren Entlassung. Als Rosenthals Sohn Paul in der Schule unter Antisemitismus zu leiden hatte, gab Leitz ihm einen Lehrlingsposten. Als die Nazis Rosenthals Getreidehandel schlossen, mietete Leitz dessen Warenlager zum fairen Marktpreis an. Dank dieser Mieteinnahmen konnte die ganze Familie Rosenthal schliesslich zu Paul nach New York ziehen. Als es ab 1933 Juden schwer hatten, ihren Arbeitsplatz bei Ariern zu behalten, stellte Ernst Leitz aus Protest erst recht etwa 50 Juden und „Mischlinge“ ein. Mehrere Fälle sind mittlerweile bekannt, in denen der Firmenchef bewusst Juden einstellte, um sie auf Posten im Ausland zu setzen. Wie etwa im Falle von Gaston Pierre Royez, den Leitz in die französische Leitz-Vertretung versetzte, zu der dieser dann 1936 auch seine Freundin, die Jüdin Gerda Rosenthal, nachholen konnte. Andere angestellte Juden wurden in die Leica-Filiale in New York oder in andere befreundete Betriebe in den USA geschickt. Leitz kam dann für die Reisekosten seiner Schützlinge auf und stellte Empfehlungsschreiben für sie aus, damit sie ein Visa bekamen.

„Ich lege auf die NSDAP keinen Wert“

Als Leitz 1937 das Amt des Wehrwirtschaftsführers angeboten wurde, lehnte er ab. Er hätte sonst ein Dokument unterschreiben müssen, das ihn zum rückhaltlosen Bekenntnis zur NSDAP verpflichtete. Daraufhin wurde ihm nahegelegt, endlich in die NSDAP einzutreten, doch Leitz antwortete dem Überbringer der Nachricht: „Ich lege auf die Partei keinen Wert.“ Erst als die Gefahr der Enteignung zu gross wurde und um „das Schlimmste zu verhindern“, trat Leitz 1941 widerstrebend dann doch in die Partei ein.

Auch Zwangsarbeiter waren im Leica-Werk beschäftigt und gehören zur dunkleren Seite der ambivalenten Firmengeschichte. „Leitz hatte 700 bis 800 Zwangsarbeiterinnen“, klärt Smith auf. „Junge Frauen aus der Ukraine, die in Lagern lebten. Leitz versuchte, die Bedingungen für sie so erträglich wie möglich zu machen.“ Die Frauen durften die  Luftschutzbunker mit benutzen, die eigentlich nur für Deutsche reserviert waren. Die Nazis beschwerten sich irgendwann, dass Leitz „zu nett“ mit den Arbeiterinnen umging. Woanders seien Zwangsarbeiter bewusst schlecht behandelt worden, betont Leitz-Urenkel Oliver Nass. Seine Grossmutter Elsie Kühn-Leitz sei täglich zu den Baracken gegangen, um den Insassen Essen und Medikamente zu bringen. „Die Leitz-Tochter führte mit den Kindern der Arbeiterinnen Theaterstücke auf. All das war den Nazis ein absolutes Grauen.“ Sie warfen ihr schliesslich „übertriebene Humanität“ vor.

Elsie Kühn-Leitz half auch der Halbjüdin Hedwig Palm, einer Freundin der Familie, in die Schweiz zu flüchten; sie besorgte Geld und Papiere. Der Fluchtversuch flog auf, Palm wurde im KZ Ravensbrück umgebracht. Im Gestapo-Verhör sagte Elsie Kühn-Leitz den Beamten: „Ich habe vielleicht gegen eines ihrer Gesetze verstossen, aber nicht gegen das göttliche Gesetz, nach dem alle Menschen, ob Juden, Christen oder Heiden, gleich sind.“ Daraufhin kam sie ins Gefängnis, als nächstes wäre sie in ein Konzentrationslager überführt worden. Nur wegen eines hohen Lösegeldes des Vaters kam sie nach acht Wochen frei. Um das spannende Leben dieser Frau nachzuerzählen, plant derzeit eine deutsche Produktionsfirma einen Spielfilm über Elsie Kühn-Leitz und ihren Kampf gegen das Nazi-Regime.

Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass Ernst Leitz II 78 Personen wertvolle Hilfe geleistet oder ihr Leben gerettet hat. Davon waren 59 Juden oder „Halbjuden“. Der Unternehmer belieferte ausserdem gegen den Willen der Nazis bis zum Kriege weiter jüdische Auslandsvertreter in Jugoslawien, Rumänien, Polen, Ungarn und Argentinien.

Bislang gab es keinen Dokumentationsfilm zu diesem Thema, sagte Regisseur Bredenbrock bei der Präsentation des Films Anfang April in Wetzlar. Es gebe höchstens Filme über die Firmengeschichte von Leica. „Dabei war hier jemand unglaublich mutig und hat sehr viel Zivilcourage gezeigt.“ Rabbi Frank Dabba Smith fügte hinzu: „Immer wenn Menschen Hilfe benötigten, ob sie nun Juden waren oder nicht, gab Leitz ihnen Hilfe.“ Er tat dies vielleicht nicht immer selbstlos als rettender Engel: „Es war ein Geben und Nehmen“, stellt Rabbi Smith fest, der als der beste Kenner dieser Episode der Firma Leica gilt. „Die Beziehungen waren oft einfach pragmatischer Natur.“

Urenkel Nass zeigt sich froh, dass nun ein Film diesen Aspekt seiner Familie zumindest in Ansätzen nacherzählt. „Wir selbst kannten bis vor kurzem nur ein paar Puzzlesteine.“ Ernst Leitz starb am 15. Juni 1956 im Alter von 85 Jahren. Im Juli 2022 wurde vor dem Neuen Rathaus in Wetzlar eine Gedenktafel enthüllt, die an ihn und sein Engagement für Demokratie und Juden erinnert.

Als Rabbiner Smith den damals inzwischen 70-jährigen Leitz-Enkel Knut Kühn-Leitz mit seinen ersten Rechercheergebnisse konfrontierte, wusste nicht einmal der etwas von den Heldentaten seines Grossvaters. Er sei ein bescheidener Mann gewesen, sehr warmherzig und mit einem grossen Beschützerinstinkt ausgestattet. „Mein Grossvater hat es zwar nie so direkt gesagt, aber das Credo der Familie war ‚Tu Gutes, aber rede nicht darüber‘.“ Smith vermutet: „Ernst Leitz wollte wohl einfach kein Held werden.“

Dokumentation „Die Nazis, der Rabbi und die Kamera“, Regie: Claus Bredenbrock, 45 Minuten, Ausstrahlung auf ARTE am 18. Mai um 20.15 Uhr
potrait quadratisch Jörn Schumacher

Über Jörn Schumacher

Jörn Schumacher arbeitet als freier Journalist und lebt in der Nähe von Münster. Er hat Linguistik, Philosophie und Informationswissenschaft studiert und war viele Jahre Redakteur beim deutschen Webportal Israelnetz und beim Christlichen Medienmagazin pro.

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1 Kommentar

  1. Mir kommen die Tränen. Deswegen hat Leica mit der Wehrmacht ein Vermögen verdient und tausende Zwangsarbeiter verhungern lassen.

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