Pessach: Fragen oder nicht fragen, das ist die Frage

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Seder Feier. Foto IMAGO / Rolf Zöllner
Seder Feier. Foto IMAGO / Rolf Zöllner
Lesezeit: 4 Minuten

Fragen oder nicht fragen, das ist die Frage. In Anlehnung an Shakespeare ist das eine sehr reale Frage.

von Rabbi Yossy Goldman

Vor langer Zeit lehrte die Mischna in Ethik der Väter (Pirkei Avot): “Wer sich schämt, wird nie lernen.” Wenn wir jemals lernen und an unserer Bildung wachsen wollen, müssen wir unser eigenes Selbstbewusstsein und unsere Angst davor, die sprichwörtliche “dumme Frage” zu stellen, überwinden. Wie mir ein Kollege einmal sagte: “Die einzige dumme Frage ist die, die nicht gestellt wird.”

Pessach ist natürlich die Zeit, in der den Rabbinern traditionell viele Fragen gestellt werden.

Ich denke, man kann mit Sicherheit sagen, dass die berühmteste aller jüdischen Fragen ist: “Ma Nishtana” – warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte? Sie übertrifft sogar die andere berühmte Sederfrage: “Wann essen wir?”

Zaghafte Fragesteller werden seit den Anfängen des Judentums ermutigt, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen. Der Talmud ist voll von Fragen und Antworten. Ich frage mich, ob es eine einzige Seite des Talmuds ohne das Hin und Her von Fragen und Antworten, Herausforderungen und Widerlegungen gibt.

So haben wir die vier Fragen der Haggada und die vier Söhne, von denen nur zwei ernsthafte Fragen formulieren – der weise und der böse Sohn. Interessanterweise scheinen ihre Fragen bemerkenswert ähnlich zu sein.

Der weise Sohn fragt: “Was sind das für Zeugnisse, Satzungen und Gesetze, die der Herr, unser G-tt, dir befohlen hat?”

Der böse Sohn fragt: “Was bringt euch diese Befolgung der Gesetze?”

Warum wird der weise Sohn für seine Frage gelobt und der böse Sohn für seine Frage angeprangert? Sie scheinen beide dieselbe Frage zu stellen.

Die Antwort ist, dass der weise Sohn höflich und respektvoll fragt: “Bitte erkläre. Erzähl mir mehr. Ich will es wissen. Ich möchte lernen.” Er bezieht sich auf “den Herrn, unseren G-tt“, was bedeutet, dass er sich selbst in die Gemeinschaft einschliesst. Er ist Teil seines Volkes.

Der böse Sohn spricht überhaupt nicht von “unserem G-tt“. Indem er “euer” sagt, schliesst er sich selbst aus der Gemeinschaft aus. Seine Frage ist überhaupt keine Frage. Sie ist eine dreiste Behauptung.

Würden wir ihre Worte mit der englischen Grammatik betonen, würden wir nach den Worten des weisen Sohnes ein Fragezeichen und nach denen des bösen Sohnes ein Ausrufezeichen setzen. Auch wenn es den Anschein hat, dass es sich um ähnliche Fragen handelt, so sind sie doch diametral entgegengesetzt. Die eine ist die demütige Frage eines aufrichtig Suchenden, der nach mehr Wissen sucht, als er derzeit besitzt. Die andere ist eine forsche und arrogante Aussage, die das Engagement seiner Brüder und Schwestern für G-tt verhöhnt.

Der böse Sohn erklärt kategorisch, dass er es besser weiss und diese religiösen alten Narren ihre Zeit und Energie damit verschwenden, eine Theologie der Torheit und der Fantasie zu verfolgen: “Was bringt euch dieser Dienst?!” Oder mit anderen Worten: “Mit welchem Unsinn verschwendet ihr eure Zeit?!

Es ist wie in der alten Geschichte vom Chazzan, dem Kantor, der einen Gemeindemitglied namens Jankel in der Synagoge beleidigte, indem er ihn einen Gonif, einen Dieb, nannte. Der Beleidigte rief den Chazzan sofort ins Büro des Rabbiners.

Als der Rabbiner hörte, was der Chazzan getan hatte, befahl er ihm, auf die Bimah (Kanzel) im Shul (Synagoge) zu gehen und für alle hörbar zu verkünden: “Jankel ist kein Gonif!”

Der Chazzan folgte den Anweisungen des Rabbiners und stieg auf die Bimah. Mit lauter, kantoraler Stimme verkündete er: “Jankel ist kein Gonif?!”

Der arme Jankel war entsetzt und lief zurück zum Rabbi, der sofort den Chazzan zu sich rief.

“Wie konntest du das tun?”, fragte er. “Du musst zurückgehen und für alle hörbar verkünden, dass ‘Jankel kein Goniff ist!'”

Daraufhin sagte der Chazzan zum Rabbiner: “Rabbi, in Sachen jüdisches Gesetz sind Sie der Experte. Aber wenn es darum geht, wie man singt, bin ich der Experte.”

Der weise und der böse Sohn scheinen fast die gleichen Fragen zu stellen. Aber ihre Melodien liegen weit auseinander. Sie singen ihre Fragen ganz unterschiedlich. Ob wir ein Fragezeichen oder ein Ausrufezeichen verwenden, kann einen grossen Unterschied machen.

Wir wurden schon immer ermutigt, Fragen zu stellen, aber wir müssen mit Respekt und Demut fragen. Andernfalls wird selbst dann, wenn wir die Antwort erhalten, diese nicht aufgenommen, sondern geht einfach zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.

Antworten gibt es im Überfluss. Wenn wir mit dem aufrichtigen Wunsch zu lernen fragen, finden wir alle Antworten, nach denen wir suchen.

Chag kascher v’sameach!

Rabbi Yossy Goldman ist emeritierter Rabbiner der Sydenham Shul in Johannesburg und Präsident der South African Rabbinical Association. Er ist Autor des Buches From Where I Stand über die wöchentlichen Tora-Lesungen, erhältlich bei Ktav.com und Amazon.

2 Kommentare

  1. “Weise” ist dieser Sohn nur im Sinn von Ps 53. Aber natürlich haben auch die Fragen des “bösen” Sohns ihre Berechtigung. Denn der angeblich weise Sohn akzeptiert von vornherein eine höhere, göttliche, Instanz, ohne zu Fragen, was überhaupt für oder gegen die Existenz dieser Instanz spricht.
    Wenn es dagegen stimmt, dass “die einzige dumme Frage die ist, die nicht gestellt wird,” dann ist natürlich auch die Frage nach der Existenz Gottes, die hinter der Frage, was denn die Befolgung seiner Gesetze bringe, steht, nicht nur erlaubt, sondern sie ist geradezu zwingend. Denn auch dafür gilt: “Ich will es wissen. Ich möchte lernen.” Lernen heißt ja nicht nur, vorgegebene Sprüche und Gesetze auswendig zu lernen, sondern vor allem, durch das Stellen von Fragen und das damit verbundene Denken und Abwägen von Für und Wider Erkenntnis zu gewinnen.

  2. Dankeschön! Ein guter Gedanke! Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich viel zu wenig frage. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen immer mehr zu WISSEN meinen und immer weniger wirklich fragen.

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