Die verdrängte Geschichte des letzten europäischen “Schtetls”

Wie ein Reporter die Story seines Lebens vor der Haustür fand

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Föhrenwald – das jüdische Schtetl in Oberbayern. Foto United States Holocaust Memorial Museum USHMM, mit freundlicher Genehmigung der Hebrew Immigrant Aid Society.
Föhrenwald – das jüdische Schtetl in Oberbayern. Foto United States Holocaust Memorial Museum USHMM, mit freundlicher Genehmigung der Hebrew Immigrant Aid Society.
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Das oberbayerische Wolfratshausen war nach dem Krieg zwölf Jahre Zufluchtsort für Juden aus ganz Europa. Später breitete sich ein Mantel des Schweigens über ihre Geschichte. Ein Buchautor lüpft ihn jetzt.

von Christoph Renzikowski

Alois Berger hat als Reporter die Welt bereist, über die Story seines Lebens stolperte der 65-Jährige daheim, genauer: in seinem Geburtsort Wolfratshausen in Oberbayern. Dort hatten die Nationalsozialisten 1939 eine Mustersiedlung für Arbeiter einer Munitionsfabrik errichtet: Föhrenwald. Nach dem Krieg fanden in ihr mehrere Tausend jüdische KZ-Überlebende, Flüchtlinge und Vertriebene aus ganz Europa vorübergehend Aufnahme. Ihre Geschichte wurde verschwiegen und verdrängt.

Kaum waren die Letzten von ihnen 1957 zwangsumgesiedelt, erhielt der Ort auf Wunsch der katholischen Kirche einen neuen Namen: Aus Föhrenwald wurde Waldram, benannt nach dem Gründer von Kloster Benediktbeuern. Katholische Heimatvertriebene zogen in die Reihenhäuschen mit ihren Spitzgiebeln. Die Föhrenallee hieß in der Lagerzeit Pennsylvania Street, heute Faulhaberstraße, nach dem damaligen Münchner Erzbischof.

Berger lebt in Berlin, in Waldram ging er zur Schule. Im katholischen Gymnasium erfuhr er nichts von dieser Vergangenheit. Auch in seiner Familie, unter Mitschülern, Freunden und Nachbarn war sie kein Thema. Der Journalist und Dokumentarfilmer wollte wissen, warum. Nach drei Jahren Recherche legt er nun das Ergebnis in Buchform vor: “Föhrenwald, das vergessene Schtetl”.

Schtetl (“Städtlein”) ist jiddisch – so nannten die osteuropäischen Juden ihre Siedlungen in Polen, Litauen, in der Ukraine. Diese Welt ging in Krieg und Verfolgung unter. Ausgerechnet im Land der Täter, die ihre Großeltern und Kinder massakriert hatten, lebte ihre Kultur ab 1945 für zwölf Jahre noch einmal auf, mit Sportverein, eigener Zeitung und sogar einer theologischen Hochschule. Selbstverwaltet, aber hinter Schlagbaum und Stacheldraht.

Für Kinder war Föhrenwald ein Abenteuerspielplatz, für ihre Eltern eine Durchgangsstation, die sie möglichst schnell verlassen wollten – Richtung USA, Kanada oder Israel. Aber das konnte dauern, manchmal platzten diese Träume ganz.

Anton Jakob Weinberger mied lange eine Rückkehr an den Ort, durch den er als kleiner Junge gestreift war, mit einem Elefanten auf Rädern an der Leine. Er wohnt heute in Frankfurt. Wenn er spricht, hört man den hessischen Einschlag. Das Spielzeugtier von damals hat ihn auf seinen 30 Umzügen begleitet, ebenso der Schlitten, den ihm der Gemüsehändler aus den Brettern von Obstkisten zimmerte.

Weinberger sagt heute, er habe sich in Föhrenwald ein- und ausgeschlossen gefühlt. Was für eine Welt lag hinter dem Zaun? Nur selten kam er mit ihr in Berührung, etwa als Dreijähriger, da musste er wegen einer Blinddarmoperation ins Krankenhaus. Freundschaften zwischen denen da drinnen und da draußen gab es, aber nur sehr wenige.

Weinberger kommt in Bergers Buch ebenso zu Wort wie eine Waldramer Familie, die bei der Renovierung unter der Tapete plötzlich einen Davidsstern entdeckte. Der Autor beschreibt, wie Jugendliche auf den Dachböden die gestreifte Kluft von KZ-Häftlingen fanden, die beim letzten Todesmarsch aus Dachau in Wolfratshausen gestrandet waren. Die jungen Leute schlüpften in die Drillich-Montur, um damit die Zugehörigkeit zu einer Clique zu markieren.

Berger traf Wolfratshauserinnen, die sich in der Synagoge in Föhrenwald einst am Sabbat um Licht und Heizung kümmerten; die als Mädchen jüdische Kinder betreuten und sich wunderten, dass ihnen das als Deutschen überhaupt gestattet wurde. Und solche, die sich mit Kuhglocken wappneten, um bei befürchteten Racheattacken aus dem Lager Alarm schlagen zu können.

Warum aber war das “Schtetl” so lange nicht der Rede wert? “Jeder war in dieser Zeit vor allem mit sich selbst beschäftigt”, lautet eine der Antworten, die der Autor referiert. Die meisten machen ihn immer noch fassungslos. Die Geschichten dahinter aber haben ihn nach eigenen Worten mehr berührt als alles andere in 35 Berufsjahren als Journalist.

Scham, auch Schuld spielten für das Schweigen eine Rolle, sagt Berger. Dazu kommt, dass Wolfratshausen “ein sehr katholischer Ort” war. “Für meine Eltern war Hitler der Antichrist, der die Kirche vernichten wollte. Man hat sich selbst als Opfer gefühlt.” Die Juden gerieten da zur Randnotiz.

Als Berger sein Buch am Sonntagabend im einstigen Badehaus des Lagers Föhrenwald vorstellt, ist das ein besonderer Moment an besonderer Stelle. Den Erinnerungsort gibt es erst seit 2018, fast wäre er einem Bauvorhaben der katholischen Kirche zum Opfer gefallen. Dank einer Bürgerinitiative ist er heute ein Museum, in dem es viel zu entdecken gibt.

An einer Hörstation erzählt die Münchner Buchhändlerin Rachel Salamander vom Bademeister im “Schtetl”. Er war zuständig für die gemeinschaftlich genutzten Sanitäranlagen. Als der Mann starb, fand man unter seinem Oberarm einen eintätowierten Totenkopf, das Erkennungszeichen der SS.

Alois Berger, "Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte", Piper-Verlag, München 2023, 240 Seiten, 24 Euro. Das Buch erscheint am 30. März.

KNA/cri/cmb/lau