Israel – Werden die Hardliner weich?

Israel geht gegen seine Regierung auf die Strasse

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Proteste gegen die Justizreform in Jerusalem, 20. Februar 2023. Foto IMAGO / Sipa USA
Proteste gegen die Justizreform in Jerusalem, 20. Februar 2023. Foto IMAGO / Sipa USA
Lesezeit: 4 Minuten

Seit zwei Monaten gehen jeden Samstag Hundertausende in Israels Ballungszentren auf die Strasse. Es geht inzwischen um viel mehr als um eine Reform der Gerichtsbarkeit. Israel muss möglichst bald die Frage beantworten: bestimmen Extremisten aus Judäa und Samaria, besser bekannt als Westbank, den politischen Ton im ganzen Land oder bleibt der führende OECD-Staat in der Spur einer erfolgreichen High-Tech-Bewegung, in dem sich Juden aus 70 Kulturkreisen und Besucher aller Couleur wohlfühlen? Die Demokratie lebt, aber….

Ein Kommentar

Die Alarmglocken läuten Sturm, alle Warnlampen leuchten feuerrot. Der Vorgang ist einmalig in der Geschichte: die US-Regierung, Israels engster Partner, rät der Regierung in Jerusalem, dass der amtierende Finanzminister lieber zu Hause bleiben soll. Er wollte diese Woche vor jüdisch-amerikanischen Organisationen an der Ostküste Reden halten. 120 von ihnen haben bereits ihre Teilnahme abgesagt und zum Boykott aufgerufen. Der Auslöser: Bezalel Smotrich, Netanyahus stärkster Koalitionspartner, aus jener eindimensional-denkenden Ecke ausgefüllt mit Egomanen, hat vor laufender Kamera in aller Gelassenheit die Meinung vertreten, man müsse Huwara, eine arabisch-palästinensische Gemeinde mit 7000 Bewohnern, ausmerzen. Dort wurden am Tag zuvor zwei israelische Brüder, 20 und 22 Jahre jung, in ihrem Auto am helllichten Tag von einem Terroristen ermordet. Es dauert drei Tage bis Smotrich seine Aussage selbst als verbalen Ausrutscher bezeichnet.

Nach einem erneuten Wochenende mit allein 160 000 Demonstranten in Tel Aviv werden die Hardliner der jungen Koalitionsregierung weich. Likud-Abgeordnete wie der frühere Parlaments-Präsident Yuli Edelstein plädieren mit ernster Miene im TV-Abendprogramm für ein Moratorium der Reform. Ohne Namen zu nennen fügt er hinzu: viele denken wie ich. Ex-Elite-Einheiten, die 1976 im afrikanischen Entebbe israelische Geiseln befreit haben, werfen Netanyahu vor, seine persönlichen Interessen über die des Staates zu stellen. Dieser Vorwurf wiegt umso schwerer, weil Netanyahus Bruder bei der Befreiungsaktion ums Leben gekommen ist. Der amtierende General Yehuda Fuchs, „Central Command“, bezeichnet in einem TV-Interview den Angriff extremistischer Israeli auf Huwara als „Schande“. „Das sind nicht die Werte des Staates Israel, in dem ich aufgewachsen bin“, beklagt der General. Nicht der Mob, sondern die Armee seien für die Sicherheit verantwortlich. „Israel ist eine Demokratie“.

Nicht genug damit: für Netanyahus bevorstehenden offiziellen Italien-Besuch weigern sich EL-AL-Piloten und -Stewardessen ihren Dienst anzutreten, meldet die Jerusalem Post. Es kostet der EL-AL-Führung Mühen und Zeit letztendlich ein Team für den Flug zu finden. Vergleichbares hat es in der Geschichte Israels noch nie gegeben.

Eigentlich müssten in diesen Tagen Vorbereitungen für eine Freudenfest laufen: 75 Jahre Israel am 14. Mai 2023. Dafür gibt es jede Menge Anlässe. Aber aufgrund der aktuellen Ereignisse steht niemanden der Sinn danach. Reservisten fast aller Gattungen bis in die höchsten Offiziersränge der IDF drohen ihren Dienst zu verweigern. Auch das erstmalig in der Geschichte des Landes. Israel hat sich in fünf großen Kriegen und andauerndem Terror gegen den äusseren Feind behauptet. Jetzt muss es beweisen, dass es sich auch gegen den inneren Gegner erfolgreich durchsetzen kann.

Am 1. November wählte Israel eine Mehrheit ins Parlament, die einen noch nie dagewesenen Volkssturm entfachte. Es brennt an mehreren Fronten und emotionalisierte Politiker versuchen mittels Dickköpfigkeit und Sturheit die offen erkennbare Tatsache auszugleichen, dass ihnen die Minister-Schuhe, in denen sie seit zwei Monaten agieren, um mehrere Nummern zu groß sind.

Wenn es nur um eine Reform des Verhältnisses zwischen Exekutive (Regierung) und Jurisdiktion (Oberstes Gericht) im Staate Israel ginge, könnte man ruhiger schlafen. Aber seit zehn Monaten verursachen wöchentliche Terroranschläge, denen regelmäßig harte und riskante militärischen Reaktionen folgen, Turbulenzen in der leidgeprüften Gesellschaft Israels. Viele Tote und Verletzte sind zu beklagen. Ganz nebenbei mehren sich die Anzeichen, dass der Iran der A-Bombe immer näherkommt.  Bevorzugtes Ziel: Israel. Auch der Überfall Russlands auf die Ukraine hat unübersehbare Auswirkungen auf Israel. 70 000 Zuwanderer allein im Jahr 2022 benötigen Wohnungen, Ausbildungsplätze, müssen integriert werden. Und was macht das Parlament: es streitet um eine vergleichsweise läppische Rechtsreform. Eine Reformvorhaben, das alte, verhärtete Fronten zwischen dem liberalen und den „Jetzt-komm-ich-Politikern“ neu belebt hat.

In diesem Umfeld toben ungebildete Jung-Politiker mit wenig internationaler Erfahrung ihre Hirngespinste aus. Sie wollen oder können nicht erkennen, dass bei allen politischen Differenzen in einem derart bedrohten Land wie Israel Einheit wichtiger ist als hundertprozentiges Rechthaben. Netanyahu, der in fünf Regierungen als Ministerpräsident großes für das Land geleistet hat, ist drauf und dran Maß und Ziel zu verlieren. In seiner Likud-Partei, die er mit starker Hand öffentlichen Widerspruch ablehnend geradezu egomanisch führt, beginnt es zu brodeln. Immer mehr erkennen, dass der amtierende Ministerpräsident und seine Familie das eigentliche Hindernis sind für eine breit aufgestellte Regierung der nationalen Einheit. Netanyahus Vorgänger Yair Lapid und der frühere Verteidigungsminister Benny Gantz stehen bereit. Ihre einzige Bedingung: Netanyahu muss weg. In der Likud-Partei gibt es eine ganze Reihe von erfahrenen Politikern, die die „Kopf-durch-Wand-Politik“, der neuen Spitzengruppe um Bezalel Smotrich, Itamar Ben Gvir, Yaron Levin und Simcha Rothman gedeckt durch Netanyahu ablehnen. Aber wer macht den ersten Schritt, wer hängt seinen Kopf als erster aus dem Fenster?

Über Godel Rosenberg

Journalist, Autor, High­techunternehmer. Godel Rosenberg war Pressesprecher der CSU und von Franz Josef Strauß, Fernsehjournalist, TV­-Moderator und Repräsen­tant des Daimler­-Konzerns in Israel. Von 2009 bis 2018 war Godel Rosenberg der Repräsentant Bayerns in Israel.

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3 Kommentare

  1. im 5. Abschnitt:
    Am 1. November wählte Israel eine Mehrheit ins Parlament, die einen noch dagewesenen Volkssturm entfachte….
    Das verstehe ich nicht. Sollte es “einen noch nie dagewesenen Volkssturm…” heissen?

  2. Wenn jemand wie Godel Rosenberg, der ja nun wahrlich nicht zu den Linken zählt, derartig mit Netanjahu und seiner Regierung abrechnet, dann ist wirklich Feuer am Dach. Bleibt nur zu hoffen, dass sich diese rechtsreligiösen Hardliner selbst aus der Regierung katapultieren, bevor sie Israel völlig zugrunderichten.

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