Lapid hat Recht, der Wahnsinn muss aufhören

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Yair Lapid während einer Sondersitzung der Knesset, in der die neue Regierung vereidigt wird, Donnerstag, 29. Dezember 2022, in Jerusalem. Foto IMAGO / UPI Photo
Yair Lapid während einer Sondersitzung der Knesset, in der die neue Regierung vereidigt wird, Donnerstag, 29. Dezember 2022, in Jerusalem. Foto IMAGO / UPI Photo
Lesezeit: 4 Minuten

Nach dem Zusammenbruch der letzten israelischen Koalitionsregierung wurde Yair Lapid zum geschäftsführenden Premierminister ernannt. Angesichts der Tatsache, dass ein erfolgreicher amtierender Ministerpräsident oft gute Chancen auf eine Wiederwahl hat, dachte Lapid wahrscheinlich, dass ihm ein überstürztes Seehandelsabkommen mit dem Libanon und der Hisbollah den Sieg bringen würde. Stattdessen wurde er von Benjamin Netanjahu besiegt.

von Sheri Oz

Jetzt glaubt Lapid, er sei auf einer Mission, um Israel vor Netanjahu zu retten. Insbesondere die von der Regierung Netanjahu vorgeschlagenen Justizreformen.

Die Justizreform war ein wichtiger Bestandteil der Programme, die die Rechtsparteien im letztjährigen Wahlkampf vorgelegt haben. Der neue Justizminister Yariv Levin, der von der Koalition unterstützt wird, hat keine Zeit verschwendet, um sie voranzutreiben.

Lapid ging daraufhin auf den Kriegspfad und behauptete, er kämpfe für die Rettung der israelischen Demokratie. So veröffentlichte er am 5. Februar ein Video, das aufgenommen wurde, als er mit Demonstranten gegen die Reformen marschierte. “Wir werden unser Land retten, denn wir sind nicht bereit, in einem undemokratischen Staat zu leben”, sagte er.

Wie Caroline Glick jedoch in Erinnerung gerufen hat, gab es eine Zeit, in der Lapid eine Justizreform befürwortete. Es scheint, dass er das immer noch tut, denn er hat Präsident Isaac Herzog vorgeschlagen, eine Kommission zur Untersuchung dieser Frage einzusetzen. Lapid tat dies sogar, während er öffentliche Proteste anführte, mit zivilen Unruhen drohte und die Arbeitgeber aufforderte, ihre Beschäftigten vor der Knesset demonstrieren zu lassen.

Mit seiner Forderung nach einem Eingreifen des Präsidenten unterläuft Lapid jedoch die demokratischen Prozesse, die er zu preisen vorgibt. Es scheint, als ob er genau der Institution, die er angeblich schützen will, nicht vertraut.

In einem Facebook-Posting übertrieb Lapid: “Nächste Woche nimmt der Staatsstreich Fahrt auf. Sie werden nicht damit aufhören. Sie stürzen sich darauf, unsere Demokratie zu zerstören, das Volk zu spalten und die Wirtschaft zu zerstören.”

In demselben Posting verwies Lapid jedoch auf die Massnahmen der Knessetausschüsse, die das Wesen des demokratischen Prozesses ausmachen: “Im letzten Monat haben wir nächtelang im Knesset-Gebäude diskutiert, Vorbehalte vorgetragen, Argumente vorgebracht, professionelle Meinungen eingeholt und Dutzende von externen Experten hinzugezogen. Wir haben der Koalition zu verstehen gegeben, dass sie nicht in der Lage sein wird, etwas einfach zu verabschieden.”

Lapid macht hier deutlich, was das Beste an der israelischen Demokratie ist: Diskussionen, Debatten und Stellungnahmen von Experten zu einem bestimmten Gesetzesentwurf. Das ist genau das, was die Rolle jeder parlamentarischen Opposition ausmacht. Ein so bedeutendes Gesetz wie die Justizreform sollte nicht einfach verabschiedet werden können. Genau das ist der Punkt.

Lapid fuhr fort: “In den letzten Wochen haben wir eine Reihe von Diskussionen über die Schäden der politischen Veränderungen und deren Auswirkungen auf alle Lebensbereiche – Wirtschaft, Sicherheit, Aussenpolitik, Frauen- und Minderheitenrechte – in allen Knessetausschüssen gefordert.” Genau. Das ist seine Aufgabe als Oppositionsführer.

Yair Lapid und Aktivisten der Yesh Atid Partei protestieren in Tel Aviv gegen die neue Regierung von Benjamin Netanyahu, 9. Dezember 2022. Foto: Tomer Neuberg/Flash90.

Aber dann hat Lapid gezeigt, dass er offenbar keinen Respekt vor den demokratischen Prozessen hat: “Ich habe den Vorschlag unterbreitet, eine Präsidenten-Kommission einzusetzen, um unsere Demokratie vor der Zerstörung zu bewahren. Die Grundvoraussetzung für die Einsetzung des Ausschusses sollte sein, die Gesetzesvorhaben zu stoppen”.

Das ist jedoch nicht die Aufgabe des Präsidenten. Es ist Lapids Aufgabe, als Oppositionsführer zu versuchen, die Gesetzgebung zu stoppen, wenn er meint, dass dies geschehen sollte.

Allerdings sieht Lapid die Notwendigkeit einer Reform: “Der Präsident wird einen Ausschuss einsetzen, der alle Parteien anhört und einen Vorschlag für eine echte, moderate und ausgewogene Reform vorlegt, die die Befugnisse des Gerichts und die Gewaltenteilung regelt.”

Auch das ist nicht die Aufgabe des Präsidenten.

Es ist die Aufgabe des Knessetausschusses, Gesetzesentwürfe zu debattieren und zu ändern. Selbst das ist nicht die letzte Instanz. Wie Lapid weiss, werden Gesetze im Laufe der Zeit immer wieder geändert, wenn die Erfahrung zeigt, dass Änderungen erforderlich sind.

In seinem Beitrag behauptete Lapid, Teil einer Protestbewegung zu sein, die “mein Land und seine Werte nicht aufgibt, ich bin nicht damit einverstanden, dass die israelische Demokratie abgeschafft wird”. Gleichzeitig gibt er die traditionellen demokratischen Prozesse auf, indem er zu präsidialen Eingriffen und zivilen Unruhen ermutigt.

Er schloss: “Wir müssen diesen Wahnsinn stoppen.”

Ja, der Wahnsinn muss aufhören. Es ist an der Zeit, von der Strasse runterzukommen, raus aus dem Büro des Präsidenten und zurück in den Ausschuss.

Die Bemühungen, die Justizreform an der richtigen Stelle zu beeinflussen, werden sicherlich nicht unbemerkt bleiben. Jeder Interessierte kann die Ausschussarbeit auf der Website der Knesset verfolgen. Über die Bemühungen der Opposition, die Reformen zu ändern, können und werden auch Artikel geschrieben werden.

Aber das Blockieren von Strassen, die Teilnahme an Demonstrationen, das Beschuldigen von Netanjahu und das Anprangern von Abgeordneten, die das tun, wozu sie von der Mehrheit der Wähler gewählt wurden, macht scheinbar viel mehr Spass.

Sheri Oz lebt seit mehr als 45 Jahren in Israel und erforscht die Wechselwirkungen zwischen Politik und israelischer Gesellschaft. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate. Übersetzung Audiatur-Online.

3 Kommentare

  1. Selbstverständlich ist Israel eine Demokratie!
    Genauso selbstverständlich muss dafür gesorgt (ist ja auch passiert) werden, daß Vorbestrafte nicht ihre kruden Ideen durchsetzen dürfen und deshalb nicht Minister sein können!
    Leute, die sich als fromm gerieren, glauben, nichts zum Gemeinwohl beitragen zu müssen; diejenigen, die religiöses Mittelalter durchsetzen wollen, tragen niemals zu einem Frieden in der Region bei!
    Aber das Vertrauen in die israelische Bevölkerung ist gerechtfertigt: Machtvolle, zahlreiche Demonstrationen für ein gerechtes, nicht rechtes Land lassen hoffen. Auch ein ehemaliger russischer Türsteher ist schließlich heute kein Außenminister mehr!

  2. Lapid gehört zu den Truppen, die nicht nur ihre Aufgaben innerhalb der Demokratie nicht wahrnehmen – er gehört dem ganzen Protest-Gedöns an, das jegliche Diskussion verweigert und stattdessen nur “auf der Straße” agiert und die Regierung außerhalb des parlamentarischen Prozesses, notfalls mit Gewalt, stürzen will.

  3. Man kann diese Dinge auch von einer ganz anderen Seite her sehen: Eine so schwerwiegende Justizreform, wie sie von der israelischen Regierung beabsichtigt wird, verlangt nicht nach einer knappen Mehrheit im Parlament, sondern nach einer sehr deutlichen – 2/3 wären nach üblichen demokratischen Regeln durchaus angemessen. Aber an dieser Regierung sind Parteien beteiligt, denen Demokratie eben nicht oberste Priorität, sondern bestenfalls Mittel zum Zweck zum Durchbringen ihrer religiösen Ziele ist. Die eigenen religiösen Ansichten verbindlich für den gesamten Staat machen zu wollen, hat aber mit Demokratie nicht viel zu tun, sondern ist das genaue Gegenteil. Über heftige Reaktionen sollte man sich daher nicht wundern. Ihnen gleich ihre Berechtigung abzusprechen, ist erst recht undemokratisch.

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