Die letzte Generation: Holocaust-Überlebende

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Foto Cover "The Last Swiss Holocaust Survivors", von Anita Winter, Stämpfli Verlag.
Lesezeit: 4 Minuten

Noch leben sie. Und noch können sie von den Gräueltaten der Nazis berichten. Sie sind sozusagen die letzte Generation. Im neuen Buch „The Last Swiss Holocaust Survivors“ von Anita Winter, Präsidentin des Stiftungsrates der Gamaraal Foundation, bekommen Holocaust-Überlebende eine Stimme. Und es ist eine wichtige Stimme, die gehört werden sollte.

Seite für Seite eine Geschichte. Seite für Seite ein Foto von einem Menschen, der das, was viele nur aus Historikerberichten kennen, noch selbst erlebt hat. Im Buch „The Last Swiss Holocaust Survivors“ von Anita Winter kommen sie zu Wort. Und manchmal ist es auch nur das Foto eines Unterarmes, das den Betrachter innehalten lässt. Denn auch ein Arm, wie beispielsweise der von Gabor Hirsch (geboren 1929 in Ungarn) mit der von Nazis tätowierten Häftlingsnummer kann Bände sprechen.

In wenigen Worten umreisst auf jeder Seite dieses wertvollen Buches ein Überlebender das, was ihm oft noch heute als Schrecken in den Knochen sitzt. Da ist der knappe Wortwechsel zwischen Wachoffizier und dem Vater der Familie, den Klaus Appel noch genau erinnert: „Sind Sie Herr Appel? Dann kommen sie mit!“ Appel, damals noch ein Bub, verstand nicht, dass dies der letzte Augenblick sein sollte, in dem er seinen Vater sah. In vielen Berichten wird deutlich: Auch der Tod der Familienangehörigen, der eigenen Schwester und des eigenen Bruders, hinterlässt tiefe Wunden und Traumata, die sich nachts melden oder sich in einem ungesunden Misstrauen gegenüber anderen Menschen jahrzehntelang zeigen.

Gerade wenn heute Menschen den Holocaust leugnen, ist es umso dringlicher, Berichte zu lesen wie den von Sami Sandhaus, der selbst mit 60 anderen Juden im Viehwaggon abtransportiert wurde und erlebt hat, wie um ihn herum Menschen erstickten. Erst jüngst ergab eine Studie, dass in den Niederlanden ein Viertel der jüngeren Menschen Berichte über den Holocaust für übertrieben oder unwahr halten. Was muss ein Holocaust-Überlebender wie Eduard Kornfeld da fühlen, der selbst miterlebte, wie im KZ ein SS-Mann einen Säugling auf einen Lastwagen warf, als sei dieser ein Nichts. Kornfeld überlebte den Todesmarsch zum Ende des Krieges und war bei der Befreiung ein Häufchen Elend von 27 Kilogramm Gewicht. Er sollte 91 Jahre alt werden.

Die Schwarz-Weiss-Porträts auf 96 Seiten bringen dem Betrachter Menschen näher, denen zuzuhören sich lohnt. Das Buch klärt im hinteren Teil zudem über die Verbrechen der Nationalsozialisten auf, was aus Überlebenden in der Schweiz wurde und welche wichtige Arbeit die Schweizer Gamaraal Foundation leistet.

Weltweit leben noch ungefähr einige 100.000 Überlebendes der Shoa. In der Schweiz sind es ungefähr 300. Etwa 124 von ihnen leben in einer finanziell unsicheren Situation. Laut der Jewish Claims Conference leben weltweit 50 Prozent der Holocaust-Überlebenden in Armut. Viele Überlebende wollen sich nicht offiziell als solche melden, da sie nach wie vor Angst haben, dass sich die Geschichte wiederholen könnte, oder weil sie die an den Traumata nicht rühren wollen. Die Gamaraal-Stiftung wurde 2014 ins Leben gerufen, um einerseits Unterstützung für die Holocaust-Überlebenden zu geben und andererseits Aufklärungsarbeit zu leisten, etwa in Schulen.

„Die Stimmen dieser Zeitzeuginnen und -zeugen sind von unermesslicher Bedeutung“, betont die Autorin des Buches, Anita Winter, Gründerin und Präsidentin der Gamaraal Stiftung. Sie ist selbst die Tochter von Holocaust-Flüchtlingen. Die Foto-Ausstellung „The Last Swiss Holocaust-Suvivors“ der Stiftung war bereits in vielen grossen Städten weltweit zu sehen, in der Corona-Pandemie ging zudem eine entsprechende Version online. In Videos berichten manche der Überlebenden von ihrem Schicksal. Die Präsentation gewann 2018 zusammen mit dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich Dr. Kurt Bigler-Preis der Pädagogischen Hochschule Zürich.

Die Porträts der Ausstellung und dieses Buches sind auf zweierlei Weisen bedeutsam. Es sind Menschen, die nicht mehr lange persönlich anzutreffen sind; Aber ausserdem sind es Zeugen eines Verbrechens, und zwar die letzten. Zeugen, die noch mit eigener Stimme bestätigen können, was in jenen Jahren zwischen 1933 und 1945 an Verbrechen durch die Nazis verübt wurden, so sehr es antisemitische Ignoranten auch bestreiten wollen. Kein Aufsatz, keine Notiz in einem Archiv kann so lebendig uns ermahnen und versichern, dass wahr ist, was die Historiker behaupten.

Und dann ist in diesem Buch auch immer wieder dieser Funken Hoffnung, das Aufblitzen eines kleinen Sieges, denn hier berichten Menschen, die dem Tod in brauner Uniform getrotzt haben. Und in der Schweiz oder anderswo ein neues Leben gefunden und neues Leben geschaffen haben. Auch beeindruckt und ermutigt manchmal ein klares Bekenntnis zum jüdischen Glauben – trotz des Grauens, das den Betroffenen wegen dieses Glaubens widerfuhr. „Der Glaube an Gott hat mich nie verlassen“, bekennt etwa Germaine Goldberg (geboren 1923), die nach der deutschen Besatzung Luxemburgs über Frankreich in die Schweiz fliehen konnte, das Abitur machte, eine Familie gründete und erst 2020 verstarb. Auch das macht „The Last Swiss Holocaust Survivors“ so wertvoll. Der Tod, der an diesen Familien vorbeigegangen ist, aber eben auch das Leben, das aus vielen dieser Schicksale hervorgegangen ist, sie beide sprechen eine klare Botschaft an den Leser: Wir dürfen nie vergessen, nie gleichgültig sein, nie schweigen. Erst recht, wenn es die letzte Generation ist, die zu uns spricht.

„The Last Swiss Holocaust Survivors“ von Anita Winter, Gamaraal Foundation
Stämpfli Verlag AG
39 CHF
ISBN 978-3-7272-6159-6
96 Seiten

Über Jörn Schumacher

Jörn Schumacher arbeitet als freier Journalist und lebt in der Nähe von Münster. Er hat Linguistik, Philosophie und Informationswissenschaft studiert und war viele Jahre Redakteur beim deutschen Webportal Israelnetz und beim Christlichen Medienmagazin pro.

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