Schon 1952 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen die bundesweit erste KZ-Gedenkstätte errichtet. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begann damit jedoch noch nicht.
von Michael Althaus
Wald, Wiesen und blühende Heide. Golden leuchten die Blätter der Bäume in der Herbstsonne. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen herrscht eine trügerische Idylle. Am Ende einer breiten Schneise, der ehemaligen Hauptstrasse des Lagers, ragt ein Obelisk in die Höhe. Zusammen mit einer Inschriftenwand erinnert er an Zehntausende Opfer, die hier den Tod fanden.
Diese Gedenkstätte wurde vor 70 Jahren, am 30. November 1952, eröffnet – als bundesweit erste ihrer Art. Die Errichtung ging auf eine Anordnung der britischen Militärregierung zurück. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und eine Gedenkstättenarbeit im heutigen Sinne begann damals jedoch noch nicht.
In Bergen-Belsen wurde nach Beginn des Zweiten Weltkriegs erst ein Kriegsgefangenenlager und später auch ein Konzentrationslager errichtet. Es war zunächst für die Unterbringung jüdischer Häftlinge vorgesehen, die unter anderem gegen deutsche Zivilisten im Ausland ausgetauscht werden sollten. Gegen Kriegsende kamen alte und kranke Häftlinge hinzu, die aus anderen Lagern dort hergebracht wurden. Die Menschen starben an Unterernährung oder sich schnell verbreitenden Krankheiten. Unter ihnen war auch die 15-jährige Anne Frank.
Die Bilder von der Befreiung des Lagers durch britische Truppen 1945 gingen um die Welt. Berge herumliegender Leichen wurden zum Symbol für die Gräueltaten der Nazis. Die Toten wurden in Massengräbern bestattet, die heute noch als Hügel sichtbar sind. Insgesamt kamen in Bergen-Belsen mehr als 20.000 Kriegsgefangene und mehr als 52.000 KZ-Häftlinge ums Leben.
Die Befreier richteten in der Nähe ein Lager für „Displaced Persons“, heimatlose Überlebende, ein. Bis 1950 lebten im grössten Camp dieser Art in Deutschland bis zu 12.000 ehemalige Häftlinge.
Die Überlebenden stellten bereits ab 1945 erste Mahnmale auf und protestierten gegen die Entfernung der Überreste des Lagers durch die Briten. Bei der Gestaltung von Obelisk und Inschriftenwand brachten sie sich kritisch mit ein. Zur offiziellen Einweihung kamen Bundespräsident Theodor Heuss und der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann.
Opferverbände und einzelne Überlebende besuchten fortan regelmässig diese Stätte. Als Mitte der 1950er-Jahre die Taschenbuch-Ausgabe des Tagebuchs von Anne Frank erschien, verzeichnete sie vorübergehend größere Besucherzahlen. Das Gelände sei jedoch viele Jahre von Vergessen und Vernachlässigung geprägt worden, sagt die heutige Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski.
Erst 1966 wurde eine Ausstellung mit Textdokumenten und Fotografien zur Geschichte des Holocaust eröffnet. Diese habe aber nicht die Form heutiger Ausstellungen gehabt, so Gryglewski. „Es gab kein pädagogisches oder wissenschaftliches Personal, sondern nur einen Hausmeister.“ Im Ort Belsen sah man sich durch die Gedenkstätte lange zu Unrecht gebrandmarkt.
Erst Ende der 80er-Jahre wurde weiteres Personal angestellt und wenig später eine neue Dauerausstellung eröffnet. Durch mehrere Besuche von Bundeskanzlern und -präsidenten war Bergen-Belsen inzwischen ein zentraler Ort des Holocaust-Gedenkens in der Bundesrepublik geworden.
Das heutige Dokumentationszentrum in einem 200 Meter langen Betonbau wurde 2007 eröffnet. Anhand von Schautafeln, Medienstationen und Filmdokumenten lässt sich die Geschichte des Lagers Bergen-Belsen erkunden. Auf dem rund 55 Hektar grossen Aussengelände zeichnen Schneisen in Wald und Heide das frühere Lager nach.
Vor der Pandemie zählte die Gedenkstätte pro Jahr rund 230.000 Besucher, darunter viele Schulklassen. „Dieser Zahl nähern wir uns nach einem pandemiebedingten Einbruch wieder an“, berichtet Gryglewski. Die in der Corona-Zeit entwickelten digitalen Formate würden auch angefragt.
Die aktuelle Ausstellung hält die Leiterin jedoch erneut für reformbedürftig. Sie entspreche nicht mehr den Seh- und Lerngewohnheiten des Publikums. Ausserdem würden die Täter nur sehr rudimentär behandelt. „Heute ist man der Auffassung, dass die Geschichte der Opfer nicht erzählt werden kann, ohne die Geschichte der Täter – und umgekehrt“, so Gryglewski.
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