In Deutschland haben sich im vergangenen Jahr im Schnitt sieben antisemitische Vorfälle pro Tag ereignet – von verletzendem Verhalten und Bedrohungen bis hin zu Angriffen und Gewalt. Das geht aus dem Jahresbericht des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) hervor, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.
von Leticia Witte
Die Bilanz: Die einzelnen Meldestellen erfassten für 2021 insgesamt 2.738 judenfeindliche Vorfälle, die zum Teil nicht strafbar sind. Damit stieg die Zahl im Vergleich zu 2020 mit 1.957 registrierten Ereignissen. Die Experten rechnen mit einer hohen Dunkelziffer.
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, machte eine „Enthemmung in Teilen der Bevölkerung“ aus. Und die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, Anna Staroselski, erklärte: „Es reicht nicht aus, einmal im Jahr ‚Nie Wieder‘ auszusprechen und dann Antisemitismus zu verharmlosen.“
Marina Chernivsky, Geschäftsführerin der Beratungsstelle Ofek, sprach von einem „Grundrauschen“. Antisemitismus sei „keine Einstellung ohne Wirkung“. In der Corona-Pandemie hätten sich die Anfragen bei Ofek fast verdreifacht, und im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sei vermehrt Beratung in Anspruch genommen worden.
Damit sprach Chernivsky zwei Entwicklungen an, die im Jahresbericht von Rias als prägend genannt werden: Sowohl die Proteste gegen staatliche Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie als auch Vorfälle in Deutschland im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt hätten antisemitische Äusserungen oder Handlungen nach sich gezogen.
Insgesamt dokumentierten die Meldestellen laut Bericht sechs Fälle extremer Gewalt. Dazu gehöre ein Angriff auf einen Juden bei einer Mahnwache in Hamburg, bei dem der Mann schwer verletzt worden sei. Oder der Beschuss eines jüdischen Gemeindehauses in Berlin.
Am häufigsten erfassten die Meldestellen verletzendes Verhalten mit 2.182 Vorfällen. Zudem habe es 101 Bedrohungen, 204 gezielte Sachbeschädigungen, 182 Massenzuschriften und 63 Angriffe gegeben. Von den betroffenen Institutionen seien es am häufigsten jüdische und israelische (521 Fälle) gewesen. Dieses Bild ergebe sich auch bei den betroffenen Einzelpersonen mit 518 Fällen. Zudem seien Nichtjuden und nichtjüdische Einrichtungen zur Zielscheibe geworden.
Was den politisch-weltanschaulichen Hintergrund von Vorfällen angeht, stiegen antiisraelischer Aktivismus auf 9 (2020: 4) und verschwörungsideologisches Milieu auf 16 Prozent (2020: 13). Gesunken sei der Anteil von rechtsextrem/rechtspopulistisch auf 17 Prozent (2020: 25). In vielen Fällen sei der Hintergrund jedoch unbekannt.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, zeigte sich darüber hinaus beunruhigt mit Blick auf islamistischen Judenhass. Insgesamt pochte er auf das Demokratiefördergesetz, damit Organisationen mehr finanzielle Planungssicherheit bekämen. Im Mai hatte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) angekündigt, dass der Referentenentwurf bis Jahresende ins Kabinett eingebracht werde.
Immer wieder wurde am Dienstag auf den jüngsten Skandal um ein als judenfeindlich kritisiertes Kunstwerk auf der documenta in Kassel eingegangen. So verwies Klein auf ein geplantes baldiges Gespräch dazu – und betonte, dass wenn Bundesmittel flössen wie bei der documenta, der Bund auch schauen müsse, dass verantwortungsvoll mit ihnen umgegangen werde. Der geschäftsführende Vorstand des Rias-Bundesverbands, Benjamin Steinitz, sprach von einem „vorläufigen Höhepunkt einer besorgniserregenden Entwicklung“. Kunstfreiheit dürfe kein Deckmantel für Antisemitismus sein.
Der Rias-Bericht betont, dass die Zahl der in dem Papier genannten Vorfälle statistisch nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sei, aber „die alltägliche Dimension von Antisemitismus“ zeige. Der Jahresbericht beruht auf Meldungen von Betroffenen, Zeugen oder Organisationen an Meldestellen, die es in einigen Bundesländern gibt.
Der Anstieg der Zahlen ist laut Rias zum Teil auf eine veränderte Datengrundlage zurückzuführen. Denn der Bericht berücksichtige Daten von drei neuen Stellen: In den Bericht für 2020 seien Daten aus vier regionalen Meldestellen eingeflossen, jetzt seien es acht gewesen.
Was die Zahlen angeht, verzeichnete jüngst auch eine andere Statistik Beunruhigendes: Das Bundeskriminalamt hatte einen starken Anstieg antisemitischer Straftaten für 2021 um 29 Prozent auf den Höchststand von 3.027 Delikten bekanntgegeben.
KNA/lwi/jps