Auch in unserer scheinbar freien westlichen Gesellschaft gibt es Menschen, die das Gefühl haben, sich nicht unbefangen zu ihrem Glauben bekennen und Meinungen zu gesellschaftlichen Themen ohne Furcht äussern zu können. Viele Christen üben in Gesprächen mit Säkularen oder in den sozialen Medien Selbstzensur, vermeiden es also, zu kontroversen Fragen Stellung zu beziehen, aus Furcht vor möglichen feindseligen Reaktionen ihres Gegenübers — das ist das Ergebnis einer von der in Wien ansässigen NGO Beobachtungsstelle für Intoleranz gegenüber und Diskriminierung von Christen in Europa (OIDAC) durchgeführten Studie mit dem Titel: Wahrnehmung von Selbstzensur: Den „Abschreckungseffekt“ erkennen und verstehen.
Sie basiert auf Interviews mit aktiven Christen unterschiedlichen Alters in vier Ländern der Welt: Mexiko, Kolumbien, Frankreich und Deutschland. Diese Staaten seien ausgewählt worden, so die Autoren, weil es dort laut der christlichen NGO Open Doors die extremsten Äusserungen „säkularer Intoleranz“ gebe.
Den Autoren Marcelo Bartolini Esparza, Friederike Boellmann, Marcela Borden Lugo, Teresa Isabel Flores Chiscul, Dennis P. Petri und Hugues Secondat de Montesquieu ging es darum, festzustellen, ob es Selbstzensur als Folge eines etwaig vorhandenen Einschüchterungseffekts gibt, ob sich, wenn ja, die Befragten dessen bewusst sind und wie sie darüber denken.
Eine Anhäufung von scheinbar unbedeutenden Vorfällen, könne, so die These der Autoren, eine Umwelt schaffen, in der Christen in gewissem Grad ein Unbehagen verspüren, ihren Glauben frei auszuleben:
„Westliche Christen erfahren einen ‚Einschüchterungseffekt‘, der aus wahrgenommenem Druck in ihrer Umwelt resultiert und in Zusammenhang steht zu Gerichtsprozessen, über die von den Medien stark berichtet wird.“
Die Fragen, die die Interviewer stellten, lauteten:
- Ist Ihnen das Phänomen der Selbstzensur (Abschreckungseffekt) bekannt
- Können Sie Beispiele dafür nennen?
- Wie wirkt es sich auf Sie aus?
- Fühlen Sie sich frei, Ihre Meinung zu sensiblen Themen zu äussern?
- Wie wirkt er sich auf andere Christen aus, mit denen Sie zusammenarbeiten?
In Kolumbien und Mexiko sagten jene, die angaben, ihre Meinung frei äussern zu können, dass sie dennoch einen „Preis“ dafür zu zahlen hätten, wenn es etwa um Themen wie Leben, Ehe, Familie und Sexualmoral gehe und sie Dinge äusserten, die nicht dem Zeitgeist entsprächen. Dann würden sie als „reaktionär“, „diskriminierend“, „intolerant“ oder „inkompetent“ gebrandmarkt. Dies, so die Autoren, werde quer durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten geäussert. Einige wenige Teilnehmer der Befragung gaben sogar an, dass sie im Beruf Sanktionen bis hin zur Kündigung erfahren hätten.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Studie: Das Gefühl, Selbstzensur üben zu müssen, nimmt ab, wenn die Betroffenen in ihren Gemeinden oder in christlichen Gruppen und Organisationen ein Gesprächstraining durchlaufen haben. Politiker, Studenten, Aktivisten, Pfarrer, Pastoren und Hochschullehrer gaben an, dass sie durch ein solches Training selbstsicherer geworden seien und in der Folge weniger zu Selbstzensur neigten.
Was ist der wichtigste Ort, wo Christen Feindseligkeit erfahren? Kaum überraschend: soziale Medien im Internet. Christen, die sich dort als solche zu erkennen geben, werden schnell auch in ihrer Eigenschaft als Christen angegriffen, selbst wenn sie ihre Argumente gar nicht religiös begründen. Männer an Universitäten äusserten in den Interviews Furcht, sich im universitären Umfeld zu Themen des Feminismus zu äussern, da dies nicht nur ihrem Ansehen schade, sondern auch zu unbegründeten Vorwürfen führe, Gewalt gegen Frauen zu verüben.
Als Hauptgrund für Selbstzensur wurde in der gesamten Recherche ein „feindliches Umfeld“ genannt, das insbesondere von „Interessengruppen oder Kollektiven mit Bezug zu sexuellen Minderheiten und radikalen feministischen Gruppen“ sowie von mit diesen Gruppen sympathisierenden politischen Parteien und Gesellschaftsschichten geschaffen werde.
Einer der Befragten aus Mexiko äusserte, dass sich Christen bei Protesten, Märschen oder Grossveranstaltungen von vermummten Menschen beobachtet und fotografiert fühlten. „Ein anderer Teilnehmer wies darauf hin, dass seine Schwester, eine Pro-Life-Aktivistin, ein Foto ihres Hauses von radikalen feministischen Gruppen als deutliches Zeichen der Einschüchterung erhalten habe.“
Der Abschreckungseffekt
Dass es nicht nur Angriffe gegen die von Christen geäusserten Positionen gibt, sondern auch gegen die Menschen, die sie äussern, führt zu Furcht und einem Gefühl der Lähmung. Dies ist es, was die Autoren den Abschreckungseffekt nennen. Die Folge, so fürchten sie, könne sein, dass Christen und christliche Positionen ganz aus dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext verschwinden.
In Frankreich stellten die Interviewer fest, dass der Abschreckungseffekt kaum wahrgenommen werde, obwohl es ihn doch gebe:
„Vielen Befragten scheint das Phänomen weder in ihrem eigenen Leben noch in der Gesellschaft im Allgemeinen bewusst zu sein. Aber als sie ‚ihre Augen öffneten‘, bestätigten sie allgemein, dass das Phänomen in vielen Bereichen der Gesellschaft weit verbreitet und allgegenwärtig ist.“
Angesprochen auf die vielen Fälle von Vandalismus und Kirchenschändungen in Frankreich gaben die befragten Christen an, dass dies ihnen, was die Gefährdung für sie persönlich betrifft, keine besondere Angst mache — keine, die sie davon abhalte, ihre Meinung zu äussern. Was sie einschüchtert, sei eher die „allgemeine kulturelle Denkweise“. So hätten sich etwa viele Christen in Frankreich dagegen ausgesprochen, während der Corona-Lockdowns Petitionen für das Recht auf Gottesdienste durchzuführen, weil sie befürchteten, dass dies der Kirche schaden könne. „In der gegenwärtigen Gesellschaft werden so gut wie alle Themen öffentlich diskutiert, mit einer Ausnahme: Die Stimmen konservativer Christen werden entweder lächerlich gemacht oder ignoriert“, schreiben die Autoren. Sie vergleichen das Verhalten von Christen mit dem anderer Gruppen:
„Gewerkschaften gehen auf die Strasse und protestieren, aber Christen entscheiden sich oft, lieber kein Aufsehen zu erregen.“
Einige der Befragten stellten heraus, dass diese Praxis in Widerspruch stehe zu dem Ideal einer offenen demokratischen Debatte, gleichwohl aber in allen Sphären der Gesellschaft — selbst bei der Vergabe von Stellen — Realität sei. Viele der befragten Katholiken beklagten zudem die „Säkularisierung“ der katholischen Kirche in Frankreich, die sich nicht traue, an wichtigen gesellschaftlichen Debatten teilzunehmen.
Schüler wird wegen Katechismus gehänselt
Bei den Interviews beobachteten die Autoren, dass Selbstzensur oft mit Vorsicht verwechselt wird:
„Natürlich ist es ein schmaler Grat zwischen dem Wunsch, vorsichtig, feinfühlig und nicht grob zu wirken einerseits und Selbstzensur andererseits. Dies ist objektiv komplex innerhalb einer kulturellen Denkweise, die öffentliche Äusserungen des Christentums nicht gern hört.“
Viele aber hätten diese „kulturelle Denkweise verinnerlicht“. Auch in Deutschland erfuhren die Autoren, dass der Glaube von den meisten als eine Privatangelegenheit betrachtet wird, über die man nicht öffentlich spricht.
Generell stelle eine christliche Zugehörigkeit als solche im öffentlichen Diskurs zwar kein Problem dar; das Etikett „evangelikal“ rufe jedoch in Deutschland — anders als in anderen Ländern — „negative Konnotationen“ hervor.
Als ein „typisches Zitat“ heben die Autoren etwas hervor, was ihnen jemand in Frankreich sagte, was aber auch auf die Situation in den anderen Ländern zutreffe:
„Ich erinnere mich, dass mein Sohn eines Tages sein Katechismusheft in seine Schultasche gesteckt hatte. In der Schule entdeckten es seine Klassenkameraden und mein Sohn wurde verspottet. Und so legte er seine Katechismussachen nie wieder zu seinen Schulsachen. Er trennte die beiden Welten. Es ist sehr heimtückisch.“
Für viele sei die Angst, gesellschaftlich nicht akzeptiert zu werden oder „sozial gelyncht“ zu werden, ein wichtiger Faktor, den es zu berücksichtigen gelte, bemerken die Autoren.
Verzicht auf Kippah um nicht als jüdisch wahrgenommen zu werden
Es bietet sich ein Vergleich zu Europas jüdischer Gemeinde an: Diese ist insgesamt zweifellos erheblich grösseren Risiken und einer Verfolgung ausgesetzt, wie sie die meisten Christen nicht zu befürchten haben (womit nicht geleugnet wird, dass auch Christen und hier insbesondere Konvertiten vom Islam durchaus immer wieder Opfer von Hassverbrechen werden, bis hin zu Mord). Gewisse Ähnlichkeiten zwischen Christen und Juden gibt es aber im Hinblick auf die Frage, was Christen und Juden in der Öffentlichkeit tun oder lassen, um nicht aufzufallen. Dazu gibt es eine Studie der EU-Agentur für Grundrechte (FRA), für die Juden aus zwölf europäischen Staaten nach ihren Erfahrungen mit Antisemitismus befragt wurden (zuletzt 2019). Von den Befragten, die zumindest gelegentlich Gegenstände oder Kleidungsstücke tragen, die sie als jüdisch identifizieren können — etwa eine Kippah oder einen Davidstern — gaben mehr als zwei Drittel (71 %) an, manchmal darauf zu verzichten, um nicht als jüdisch wahrgenommen zu werden. Sie machen sich also Sorgen, wie andere auf ihr jüdische Identität reagieren könnten.
Was Christen betrifft, so kommt die OIDAC-Studie zu dem Ergebnis, dass ein Abschreckungseffekt existiert: Viele Christen halten ihre Meinungen zurück, aus Angst vor Beleidigungen oder anderen Konsequenzen. Diese Angst führt bei manchen also dazu, dass sie ihr eigenes Handeln verändern und versuchen, möglichst nicht aufzufallen.
Der Bericht sieht aber „Zeichen der Hoffnung“: Unter jüngeren Christen sei Selbstzensur weniger ausgeprägt als unter älteren. Zudem werde Selbstzensur häufiger als früher reflektiert, auch im Gespräch. Dies, so die Autoren, sei der erste Schritt, sie zu bekämpfen, etwa durch das Erlernen von Gesprächsstrategien im gemeinsamen Training.