Rund 1.400 Synagogen und jüdische Betstuben wurden in der Nacht des 9. November 1938 von den Nazis zerstört. Niemand kann diese – teilweise wunderschönen – Gebäude zurückholen. Doch in letzter Zeit gibt es verstärkt das Bemühen, moderne Technik einzusetzen, um einen Eindruck von der Bedeutung dieser Gebetshäuser zu vermitteln. Ein Besuch in einer virtuellen Synagoge.
Vielen ist gar nicht bewusst, wie gross das Ausmass des Schadens ist, den die Nazis mit ihrer Zerstörungswut in jener Nacht angerichtet haben, die wegen der vielen Scherben später „Kristallnacht“ genannt wurde. In fast jeder etwas grösseren Stadt Deutschlands stand bis zu jener Nacht eine Synagoge. Oft mitten in der Innenstadt, viele von ihnen wunderschön anzusehen, sowohl aussen als auch innen. Auch das ist vielen Deutschen nicht mehr bewusst: dass die Synagogen nicht nur zahlreich waren, sondern auch bedeutete architektonische Farbtupfer in ihren jeweiligen Städten.
Marc Grellert ist Architekt und Leiter des Fachgebietes Digitales Gestalten an der TU Darmstadt. Seit 1994 lässt er Synagogen mit seinen Studenten im Computer wieder auferstehen. Inzwischen hat er 25 der jüdischen Gebetshäuser digitalisiert und so in gewisser Weise wieder „aufleben“ lassen. Denn die moderne Technik erlaubt es, die längst vergangenen Gebäude wieder zu betreten – virtuell. Und da „Virtual Reality“ (VR) mittlerweile sowohl günstig als auch technisch weit fortgeschritten ist, wird VR auch für das Gedenken an die Synagogen interessant.
„Für viele ist das Thema Synagogen völlig unbekannt“, sagt Grellert. „Und auch wie prächtig diese Gebäude einmal aussahen, ist vielen nicht bekannt.“ Daher sei das Projekt auch ein Beitrag zum Gedenken an die Shoah, so der Architekt. „Aber auch die städtebauliche Bedeutung der Synagogen wird hier deutlich. Gerade die grossen Synagogen in den Grossstädten waren sehr prägend, etwa in Köln, Dortmund, München und Berlin.“
Angefangen hat alles vor 27 Jahren mit der digitalen Rekonstruktion von drei Frankfurter Synagogen, die 1938 zerstört worden waren. In Frankfurt am Main gab es eine der grössten jüdischen Gemeinden Deutschlands, aber auch die Nähe seiner Uni Darmstadt spielte eine Rolle, sagt Grellert. Es folgten 13 Synagogen aus anderen Städten, und Bundesbildungsministerium stattete das Projekt mit einer Förderung aus. Im Jahr 2000 gab es die erste Ausstellung mit den virtuellen Synagogen, zunächst in Deutschland, dann in Israel, Kanada und den USA.
Auch an der digitalen Rekonstruktion des berühmten jüdischen Viertels in Köln arbeiten Grellert und sein Team derzeit. Dort erstreckt sich in der Nähe des Rathausplatzes eine 6.000 Quadratmeter grosse archäologische Zone, die grösste Deutschlands. Hier soll ein neues Museum entstehen, und Grellerts digitale Rekonstruktion der Kölner Synagoge wird ein Highlight sein. Zu sehen ist das Bethaus so, wie es im Mittelalter aussah; man wird es betreten können, so als stünde es noch. Zumindest virtuell.
Studenten über drei Semester mit einer Synagoge beschäftigt
Der Ingenieur Grellert arbeitet bei seinen Synagogen-Projekten immer mit Studenten zusammen, und ihm ist bewusst, dass es da nicht nur um die Vermittlung von Technikwissen geht. „Drei bis vier Studierende setzen sich über drei Semester mit einer einzigen Synagoge auseinander“, sagt der Architekt. „Es geht dabei auch um ein gesellschaftliches Thema, an das die Studierenden herangeführt werden.“ Die Rekonstruktion einer Synagoge, die gar nicht mehr steht, beginnt mit der Quellensuche. In vielen Fällen gibt es noch Baupläne. Doch auch Zeitzeugen suchen die Wissenschaftler dann auf. Und die wissen dann manchmal so etwas zu berichten wie: „Die Decke unserer Synagoge war blau und hatte goldene Sterne.“ Von den Innenräumen gebe es oft nur Schwarz-Weiss-Fotografien, daher seien solche Informationen von Augenzeugen besonders wertvoll, sagt Grellert. Am Computer erzeugt er dann mit seinen Studenten das richtige innere und äussere Erscheinungsbild. War hier Backstein oder Holz? Wie strahlte die Sonnen in das Gebetshaus, wo wurde das Licht reflektiert?
Wer sich nun eine VR-Brille aufsetzt, macht eine kleine Zeitreise. Man hört die Gesänge des Chores, Lichtstrahlen fallen von einer Seite durch die grossen Fenster, und man selbst sitzt mitten im Innenraum auf einer Bank. Wer will, kann sich in Sekundenschnelle auf die Frauen-Empore versetzen und von dort einen Blick hinab auf den Synagogen-Innenraum werfen.
Dann erstrahlen auf einmal all jene Synagogen, die es nicht mehr gibt, in neuem Glanz. Die vom jüdischen Davidstern inspirierte Grundfläche der Synagoge in Dortmund mit ihrem fast orientalisch anmutenden Kuppelbau, die samtroten Wände der ehemaligen Synagoge von Hannover, eine in leuchtenden Farben erstrahlende Kreuzkuppel in Köln, gestaltet als blauer Nachthimmel mit Sternen, oder da ist die imposante Orgel über dem Altar. Erst wer sich wirklich, das heisst: virtuell in diesen Synagogen aufhält, bekommt ein Gespür dafür, wie schön, aber auch wie ehrfurchteinflössend diese Gebäude waren. Herausragend ist zum Beispiel die Synagoge von Plauen, die erstaunlich modern wirkte in ihrem Bauhaus-Stil und mit ihren grün-blau getünchten Wänden. Erst jetzt kommt sie, dank Digitaltechnik, wieder richtig zur Geltung. Das Haus war 1930 eingeweiht worden, also nur acht Jahre vor ihrer Zerstörung durch die Nazis.
Am Originalort in Frankfurt – in einem Bunker
Seit Ende 2021 haben die virtuellen Synagogen Grellerts einen dauerhaften Ausstellungsort gefunden. In Frankfurt am Main steht an der Friedberger Anlage im Stadtteil Ostend ein riesiger Hochbunker der Nazis. An dieser Stelle stand bis zur Progromnacht eine Synagoge, 1907 eingeweiht. Im Jahr 1942 errichteten die Nazis an der Stelle den Bunker, der nun das Stadtbild verschandelt, aber auch an die Schreckensherrschaft der Nazis erinnert – und an die vielen zerstörten Synagogen in Deutschland.
Der Verein „9. November“ betreibt auf zwei Etagen des fensterlosen Baus seit einem halben Jahr eine Ausstellung, die an das jüdische Leben in Deutschland, speziell in Frankfurt, erinnert, aber auch das blühende jüdische Leben von heute zeigt, etwa in einer Foto-Ausstellung. „Die Ausstellung kann Barrieren des Kennenlernens von jüdischer Kultur und Alltagsleben abbauen“, sagt Max Apel, Geschäftsführer Initiative, der durch die Ausstellung führt. Seit kurzem gehören die digitalen Rekonstruktionen von Grellert zur Ausstellung. Auf grossen Beamer-Projektionen bekommt der Besucher einen Eindruck dieser schönen Gebäude, und mittels VR-Brillen können sie die Frankfurter Synagoge dann auch selbst betreten, als wäre sie noch dort. Genau an dieser Stelle, an der man sitzt, hätte man auch vor 90 Jahren in der Synagoge gesessen.
Auch Erfurts Synagoge ersteht digital wieder auf
Auch in Erfurt hat man die Chancen der virtuellen Technik erkannt und setzt sie ein, um die „Grosse Synagoge“ der Stadt den Touristen vor Augen zu führen. Inspiriert wurde sie von der Arbeit des Darmstädter Architekten Grellert, sagt die Projektleiterin Annegret Schüle vom Erinnerungsort „Topf & Söhne“ in Erfurt. Die Erfurter Synagoge ist seit September 2021 virtuell wieder besuchbar. An drei verschiedenen Orten in Erfurt können die Touristen die virtuelle Besichtigungstour machen: bei der 1952 wieder neu eingeweihten „Neuen Synagoge“, in der Ausstellung „360Grad Thüringen Digital Entdecken“ in der Erfurter Innenstadt und am Erinnerungsort „Topf & Söhne“, wo damals die Öfen für das Konzentrationslager Auschwitz gebaut wurden. Das 3D-Modell ist von einem Team aus Wissenschaftlern von drei Thüringer Hochschulen erarbeitet worden – der Universität Erfurt, der Fachhochschule Erfurt sowie der Universität Jena. Wer nicht nach Erfurt reisen kann, kann sich immerhin eine abgespeckte Version des 3D-Modells auf der Webseite juedisches-leben-thueringen.de in einer Web-Anwendung ansehen.
Die 1.400 Synagogen und jüdischen Betstuben, die die Nazis 1938 zerstörten, können vielleicht nicht alle wieder aufgebaut werden. Aber erfreulicherweise gibt es derzeit ein verstärktes Bemühen, moderne VR- und Digitalisierungstechnik zu verwenden, um dennoch ein wenig die Schönheit und Bedeutung dieser Gotteshäuser wieder für die nachkommenden Generationen sichtbar zu machen.
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