Orbáns Wahlsieg und die ungarischen Juden

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Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bei der Stimmabgabe in einem Wahllokal in Budapest, Ungarn, am 3. April 2022. Foto IMAGO / Xinhua
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bei der Stimmabgabe in einem Wahllokal in Budapest, Ungarn, am 3. April 2022. Foto IMAGO / Xinhua
Lesezeit: 5 Minuten

In einer ungewöhnlichen Wahl in Ungarn, bei der sich ideologisch ungleiche Oppositionsparteien zusammenschlossen, um Premierminister Viktor Orbán an der Ausübung seiner vierten Amtszeit in Folge (und der fünften insgesamt) zu hindern, erteilte ihm das ungarische Volk das Mandat, trotz der zunehmenden Kritik an seinem Vorgehen im Russland-Ukraine-Krieg, das Land weiterzuführen. Orbán und seine Fidesz-Partei haben die Wahl mit grossem Vorsprung gewonnen und sogar Parlamentssitze hinzugewonnen.

von Orit Arfa

Überschattet vom Krieg in der angrenzenden Ukraine, dienten die Wahlen als eine Abstimmung über Orbáns nationalkonservativen Ansatz. Während der 58-Jährige in Europa polarisiert, weil er sich auf dem Höhepunkt der Einwanderungskrise 2015 teilweise dem EU-Mandat widersetzte, muslimische Migranten aufzunehmen, bestätigt die Wahl, dass er die allgemein patriotische und christlich geprägte ungarische Bevölkerung repräsentiert.

Die jüdische Gemeinschaft war in Bezug auf Orbán weitgehend über religiös-politische Grenzen hinweg gespalten. Organisationen, die mit der Chabad-Lubawitsch-Bewegung verbunden sind, nahmen im Allgemeinen eine freundlichere Haltung gegenüber dem sich selbst als pro-israelisch und pro-jüdisch bezeichnenden Politiker ein, während jüdische Linke, die inoffiziell von der Föderation der Ungarischen Jüdischen Gemeinden vertreten werden, sich im Allgemeinen auf die Seite derjenigen stellten, die Orbán stürzen wollten. In Ungarn leben schätzungsweise 100.000 Juden, die meisten davon in und um Budapest.

Dennoch gab es bei dieser Wahl einige Grauzonen, die es selbst einer linken Wählerschaft, insbesondere Juden, schwer machten, eine Anti-Orbán-Koalition von ganzem Herzen zu unterstützen. Zur Sechs-Parteien-Koalition “Vereint für Ungarn” gehörte auch die rechtsextreme Jobbik-Partei, deren Vertreter sich in der Vergangenheit im ungarischen Parlament antisemitisch geäussert haben, unter anderem mit der Aufforderung, eine Liste ungarischer Juden zu erstellen, die eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen könnten.

Jobbik hat sich selbst als moderat bezeichnet und behauptet, ihre Reihen von Extremisten gesäubert zu haben; einige ihrer offen rassistischen Mitglieder haben sich jedoch einfach abgespalten und “Unsere Heimat” gegründet, die zum Entsetzen der jüdischen Bevölkerung gerade sieben Sitze gewonnen hat.

Kollateralschaden

Rabbiner Shlomó Köves, der Oberrabbiner des orthodoxen EMIH-Verbandes der ungarischen jüdischen Gemeinden, hat sich lautstark gegen die Legitimierung von Jobbik ausgesprochen. Die antisemitischen Äusserungen der Jobbik in der Vergangenheit seien viel besorgniserregender als die Vorwürfe der Linken, dass Orbán die Rolle Ungarns im Holocaust verharmlose, um den Nationalstolz zu wecken.

Für Köves zählt zunächst die Bilanz des Ministerpräsidenten.

“Wenn ich mir Ungarn heute anschaue, und zwar nur aus jüdischer Perspektive, sehe ich, dass es einer der sichersten Orte für Juden in Europa ist”, sagte er.

Der Rabbiner erinnerte sich daran, wie er als Jugendlicher Angst hatte, in Budapest eine Kippa zu tragen, und betonte, Juden müssten dies im Gegensatz zu anderen europäischen Hauptstädten nicht mehr fürchten. “Wenn man sich die Zahl der antisemitischen Übergriffe anschaut, hat Ungarn eine der niedrigsten in Europa, wo es eine grosse jüdische Gemeinde gibt. Auch stelle ich fest, dass die ungarische Regierungspolitik Israel gegenüber sehr wohlwollend eingestellt ist.”

Er sieht zwar einen Aufwärtstrend bei den konservativen jüdischen Wählern, vor allem in der jüngeren Generation, doch der derzeitige Zustand der jüdischen Sicherheit in Ungarn reichte nicht aus, um alteingesessene linke Juden umzustimmen. Die verstorbene jüdische ungarische Philosophin und Holocaust-Überlebende Ágnes Heller erklärte in ungarischen Medien, dass eine Zusammenarbeit mit Jobbik gerechtfertigt sei, um Orbán zu besiegen, und schockierte damit sogar einige Juden aus der linken Mitte.

“Sie erklärte, dass dies einer dieser Kollateralschäden sei, die man in Kauf nehmen müsse, um das Orbán-Regime zu bekämpfen”, so Köves. “Das Problem ist, dass so ein  Kollateralschaden angerichtet wurde, obwohl der Kampf selbst nicht einmal erfolgreich war.”

“Der Antisemitismus ist parteiunabhängig”, sagte Tomáş Wagner, ein jüdischer Journalist aus Budapest. “Es gibt nur Parteien, bei denen es wichtig ist, Antisemitismus öffentlich zu machen. Dabei handelt es sich um eine kleine Partei namens ‘Unsere Heimat’. Die anderen Parteien setzen sich offiziell für die Juden ein, aber trotzdem sind viele von ihnen antisemitisch. Meiner Meinung nach ist die Mehrheit der Juden in Ungarn eher links eingestellt, vor allem die Älteren”.

Parallelen zur israelischen Politik

Die Wahl in Ungarn weist einige Parallelen zur politischen Konstellation in Israel auf, insbesondere zwischen den Amtszeiten von Orbán und Benjamin Netanjahu. Sowohl Orbán als auch Netanjahu waren lange Zeit Ministerpräsidenten, wobei zwischen ihren ersten beiden Amtszeiten eine Pause lag. Fidesz ist am ehesten mit dem israelischen Likud vergleichbar (soweit die Parteiführer dessen nationalkonservative Grundsätze befolgen). Ihre angestrebte Abwahl führte zu einer Koalition von Parteien von links bis rechts, die von konservativen Führern angeführt werden – mit Israels Ad-hoc-Koalition als Nachfolger.

Die beiden Spitzenpolitiker trafen sich 2017 in Israel. Als Mitglied der ungarischen Delegation in Israel bemerkte Köves, dass die Wahrnehmung von Orbán in Israel ebenso wie in Europa entlang politischer Linien gespalten ist: Die Linke beschimpfte Orbán als “Faschisten”, während die Rechte ihn als Anführer der israelfreundlichen Strömung in der EU feierte.

In den letzten Wahlen wurden vor allem die Persönlichkeiten der Ministerpräsidenten, die Dauer ihrer Amtszeit und die wahrgenommene Korruption angegriffen, nicht aber spezifische politische Massnahmen.

“Die Themen der Opposition waren nicht in erster Linie inhaltlicher Natur, sondern konzentrierten sich auf Fidesz und Orbáns angebliche Korruption, seine EU-feindliche Politik und auf den Vorwurf, dass er Ungarns internationalem Ansehen schadet, anstatt es aufzubauen”, sagte Martin Böhm, Forscher für jüdische Fragen bei der konservativen Mathis-Corvinus-Collegium-Stiftung.

Laut Böhm ist Orbáns “Ungarn zuerst”-Haltung in Bezug auf die Einwanderung weitgehend zum Konsens geworden, so dass Orbáns Beziehung zu Putin das hoffnungsvollste und letzte Argument der Opposition blieb. In den sozialen Medien kursierten Bilder von Orbáns und Putins Händedruck im Jahr 2017 und “Pro-Putin”-Zitaten. Ungarn hat zwar rund eine halbe Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen und unterstützt die Rolle der NATO bei der Bekämpfung Russlands, hat sich aber gegen ein EU-weites Energieembargo sowie einen potenziell konfrontativen Waffentransport über Ungarn ausgesprochen und damit den Zorn seiner europäischen Nachbarn, darunter des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenski, auf sich gezogen.

Orbán sagte, dass eine plötzliche Unterbrechung der russischen Energieversorgung, von der das Land seit langem abhängig ist, katastrophale Auswirkungen auf die ungarische Wirtschaft haben würde.

“Ich glaube, die Menschen empfinden genauso, wie Orbán es gesagt hat”, bemerkte Köves. “Sie wollen den Flüchtlingen helfen, aber nicht in den Krieg hineingezogen werden. Und ausserdem wollen sie in ihren Häusern heizen, was ohne Energie aus Russland nicht möglich wäre”.

Orit Arfa ist Autorin und Journalistin und lebt in Berlin. Sie hat einen BA und MA in Jüdischen Studien. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate. Übersetzung Audiatur-Online.

4 Kommentare

  1. Wem sei Dank, Die Fahnen mit der Wolfsangel werden nicht mehr bei Kaufland verkauft.
    Jetzt müsste noch das Morden aufhören.

  2. Die Lesezeit 5 Minuten ist nicht richtig, ich habe 30 Minuten gebrauch und sage:
    Frau Orit Arfa, Ich flehe Sie an, hören Sie bitte was aus der Ukraine für Ton kommt, dort kämpfen auch noch Kinder Abrahams auf der Seit eines Komikers der von sich gibt: „In vielen Dörfern der befreiten Bezirke der Kiev haben die Besatzer Dinge getan die die Einheimischen nicht einmal während der Nazis Besetzung vor 80 Jahren gesehen haben.“
    Ich frage sie haben Sie nicht auch den Eindruck mehr kann man das Nazi Morden nicht verniedlichen? Ich bekomme ein erdrückendes Gefühl um die Brust wenn ich so was höre.
    Solange Stephan Bandera wie ein Heiliger in der Ukraine verehrt wird habe ich mein Empathie Gefühl auf Null gestellt. Der Westlich orientierte Teil der Ukraine ist in der Mehrheit Nationalfaschistisch orientiert. Orbán hat recht mit seinem Handeln, friedliche freiheitliche denkende Menschen müssen so handeln wie Orbán. Ich denke auch an den Ungarn Aufstand, wo war da der Westen?

    Beispiel in der Lemberger Umgebung während der Zeit des Nationalsozialismus ca. 540.000 Menschen in Konzentrations- und Gefangenenlagern umgebracht, davon 400.000 Juden, darunter etwa 130.000 Lemberger. Die restlichen 140.000 Opfer waren russische Gefangene.
    Gesamt 24000000 Tote Russen im 2. Weltkrieg.

  3. Wenn wir Rabbi Köves folgen, dann müssen wir es auch richtig finden, dass sein geliebter Ministerpräsident in seiner Siegesrede Witzchen machte über Selinsky und Soros, gerade zu einer Zeit als in der Ukraine
    hunderte von Leichen gefunden wurden, die Orbáns Freund hat foltern, vergewaltigen und in den Kopf schießen lassen.
    Was hier nicht erwähnt wurde, Juden aber interessieren sollte. Die aus Jobbik ausgeschiedene richtige Nazipartei “Mi Hazánk” ist im neuen Parlament mit sieben Abgeordneten vertreten. Mi Hazánk wurde von Fidesz unterstützt und teilt die rechtsextremistische Ideologie von Viktor Orbán.

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