Der Westen kann es sich nicht leisten, gegenüber der iranischen Bedrohung gleichgültig zu sein

Wenn sich die Pläne des Irans nicht grundlegend ändern, könnten die europäischen Länder bald zur Zielscheibe, der immer stärker werdenden iranischen Raketenstreitkräfte werden.

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Jahrestag des iranischen Raketenangriffs auf den US-Luftwaffenstützpunkt Ain Al-Assad am 07.01.2022 in Teheran. Foto IMAGO / NurPhoto
Jahrestag des iranischen Raketenangriffs auf den US-Luftwaffenstützpunkt Ain Al-Assad am 07.01.2022 in Teheran. Foto IMAGO / NurPhoto
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Während die iranischen und westlichen Unterhändler Berichten zufolge einer Einigung über die nukleare Zukunft des Irans immer näherkommen, stellen sich viele Kommentatoren die gleiche Frage. Wird ein neues Abkommen Bestand haben und für Stabilität im Nahen Osten und in der Welt sorgen?

von Dore Gold

Wie immer ist der Schlüsselfaktor bei der Entscheidung, ob ein Rüstungskontrollvertrag tatsächlich funktionieren wird, die Bereitschaft beider Parteien, sich an seine Bedingungen zu halten. Die jüngste Geschichte verheisst hier nichts Gutes.

Im März 2004 entdeckten Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO), dass in einer iranischen Nuklearanlage namens Lavizan-Shian sechs Gebäude demontiert und die Erde in dem Gebiet bis zu einer Tiefe von etwa zwei Metern ausgehoben worden war.

Teheran hatte sich verpflichtet, Inspektionen im Rahmen eines IAEO-Sicherheitsabkommens zuzulassen. Der offensichtliche Zweck der Beseitigung dieser Erde bestand darin, die Entnahme radioaktiver Proben zu erschweren, wenn nicht gar zu verunmöglichen.

Seit 2004 hat sich viel verändert, allerdings nicht zum Besseren. Zwar schlossen die P-5-plus-eins-Mächte (China, Frankreich, Russland, das Vereinigte Königreich und die USA sowie Deutschland) 2015 ein Atomabkommen mit dem Iran, das JCPOA, das jedoch nicht unterzeichnet wurde. Dieses Abkommen wies eine Reihe bemerkenswerter Schwachstellen auf – insbesondere das Versäumnis, iranische Raketen oder andere Trägersysteme zu erfassen.

Als die Vereinten Nationen in der Vergangenheit Resolutionen zu Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen im Irak ausarbeiteten, verlangten sie, dass ballistische Raketen mit einer Reichweite von mehr als 150 Kilometern unter internationaler Aufsicht entfernt oder zerstört werden müssen. Raketen mit dieser Reichweite waren gänzlich verboten; sie durften weder hergestellt noch an Stellvertreter wie die Hisbollah geliefert werden.

Ein Jahrzehnt später wurden im Rahmen des JCPOA keine derartigen Bestimmungen für den Iran erlassen. Infolgedessen wuchs Irans Kapazität an ballistischen Raketen, sowohl in Bezug auf die Anzahl als auch auf die Qualität, einschliesslich der Reichweite und Genauigkeit seiner Raketenstreitkräfte.

Schon heute, noch bevor der Iran eine einsatzfähige Atomwaffe entwickelt hat, verändert er das Kräfteverhältnis in der Region, wie der iranische Angriff auf die US-Truppen auf dem Luftwaffenstützpunkt Ayn al-Assad im Westirak im Januar 2020 zeigte, bei dem 110 amerikanische Soldaten schwere Kopfverletzungen erlitten. Stellvertretende iranische Streitkräfte, wie die jemenitische Houthi-Bewegung, haben in den letzten drei Jahren wiederholt das Zentrum der saudischen Hauptstadt Riad mit ballistischen Raketen und Drohnen angegriffen.

Der scheidende Befehlshaber des US-Zentralkommandos, General Kenneth McKenzie, gab Mitte März eine Erklärung ab, in der er feststellte, dass der Iran inzwischen über 3.000 ballistische Raketen verfüge. Diese seien zur grössten Bedrohung für die Sicherheit im Nahen Osten geworden. Ausserdem habe Irans Stellvertreter, die Hisbollah, fast 150.000 Raketen angeschafft.

Die Befürworter des Abkommens argumentierten, dass eine gewisse Einigung über die nuklearen Fähigkeiten des Landes dazu beitragen würde, das Verhalten des Irans insgesamt zu mässigen. Diese Behauptung wurde jedoch bald mit dem Abschluss des JCPOA im Jahr 2015 auf die Probe gestellt. Im Endeffekt trat genau das Gegenteil ein.

Einer britischen Studie zufolge hat die Zahl der militanten schiitischen Milizen nach 2015 rapide zugenommen. Der Nahe Osten wurde weitaus gefährlicher. Die Aufhebung der westlichen Wirtschaftssanktionen bereitete den Boden für die Finanzierung von Milizen in der gesamten Region, insbesondere in Irak, Syrien und Jemen.

Das Korps der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) war das von Iran gewählte Instrument zur Verbreitung der neuen Militanz. Dem IRGC das Etikett “terroristisch” abzuerkennen, wie es das JCPOA getan hat, ist nicht nur moralisch und faktisch falsch, sondern wird dieses Netzwerk wahrscheinlich auch dazu ermutigen, mehr Anschläge zu verüben, da es wieder eine gewisse Straffreiheit für Aktionen der Revolutionsgarden ermöglicht, selbst wenn es sich dabei unbestreitbar um Terrorakte handelt.

Zu Beginn dieses Jahres bekannten sich die Revolutionsgarden zu einem Raketenangriff auf das US-Konsulat in der nordirakischen Stadt Erbil, bei dem ein Dutzend iranische Raketen eingesetzt wurden. Die Rolle der Revolutionsgarden sollte eigentlich niemanden überraschen. Seit ihrer Gründung kurz nach der Islamischen Revolution 1979 war sie an einigen der schlimmsten vom Iran unterstützten Anschlägen beteiligt.

Die iranischen Revolutionsgarden spielten eine Rolle bei dem Angriff schiitischer Kämpfer in Beirut 1983, bei dem die Kaserne des US Marine Corps bombardiert wurde und 241 US-Soldaten ihr Leben verloren. Sie waren auch massgeblich an der Organisation des Anschlags auf die Khobar Towers in Saudi-Arabien 1996 beteiligt, bei dem Angehörige der US-Luftwaffe getötet wurden. Die Rolle der Organisation ist inzwischen global und reicht weit über den Nahen Osten hinaus. Im Jahr 2015 wurde ihre Partnerorganisation Hisbollah dabei erwischt, wie sie am Stadtrand von London Sprengstoff lagerte.

Eines der Vermächtnisse der Anschläge vom 11. September 2001 bestand darin, den Westen vor den Gefahren zu warnen, die von sunnitischen Organisationen wie al-Qaida ausgehen. Doch durch die Arbeit der Revolutionsgarden breitet sich auch eine starke schiitische Militanz aus, die vom Iran gefördert wird. Dies darf nicht übersehen werden.

Die laufenden Verhandlungen zwischen dem Westen und dem Iran werden zweifellos Teherans Fähigkeiten zur Machtausweitung in der Zukunft beeinflussen. Wenn sich die iranischen Absichten gegenüber den westlichen Staaten nicht grundlegend ändern, werden die europäischen Länder wahrscheinlich nicht nur politische Rivalen bleiben. Sie könnten schon bald zu realen Zielen der zunehmend stärkeren iranischen Raketenstreitkräfte werden.

Dore Gold ist der ehemalige israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen und derzeitiger Präsident des Jerusalem Center for Public Affairs. Dieser Artikel erschien ursprünglich im Sunday Telegraph Grossbritannien. Übersetzung Audiatur-Online.

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