Über 850 000 waren teilweise seit Mitternacht auf den Beinen, um Rabbiner Chaim Kanievsky auf seinem letzten Weg zu begleiten. Er war kein König, kein Präsident, kein Minister, auch kein General. Nicht der Staat, keine Partei, kein Wirtschafts-Konzern haben zur Teilnahme an seiner Beerdigung aufgerufen. Trotzdem kamen sie zu Hunderttausenden, buchten 1700 Busse allein aus Jerusalem und legten das High-Tech-Land Israel für einen Arbeitstag lahm. Sie alle erwiesen ihm die Ehre.
Bnei Brak, östlich an Tel Aviv grenzend, ist mit über 200 000 Bewohnern eine der am dichtesten besiedelten Städte weltweit. Dort lebte der im Alter von 94 Jahren verstorbene Rabbiner Kanievsky, den seine Anhänger nur als „Reb Chaim“ kennen, in einer 80-Quadratmeter-Wohnung in einem der üblichen auf Säulen stehenden Sechsfamilienhäuser. Seine Eltern wanderten mit dem 3jährigen 1931 aus Polen in das damalige Mandatsgebiet Palästina ein. Seither lernte er täglich 17 Stunden Thora, das Alte Testament, eines der frischesten und am meisten verkauften Bücher auf dem weltweiten Markt des Lesens. Seine Frau Bat Sheva unterstützte ihn kraftvoll und gebar ihm drei Söhne und fünf Töchter.
Ministerpräsidenten, Minister, Unternehmer und viele Verzweifelte, vom Leben geplagte aus aller Welt, suchten seinen Rat. Die Audienzen waren stets kurz, er verstand es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Als der Vater des israelischen Soldaten Gilat Shalit, der fünf Jahre von Terroristen entführt in Gaza gefangen gehalten wurde, Rat und Hilfe bei Reb Chaim suchte, prophezeite er seine gesunde Heimkehr. Er vergass nicht nach dem Wohlbefinden der Mutter zu fragen. Denn er wusste, sie leidet an der Ungewissheit am Schicksal ihres Sohnes am meisten. Gilat kam kurze Zeit später nach Hause. Spätestens seither kennt die Verehrung nicht nur unter den barttragenden Schwarzhüten in Israel keine Grenzen.
Kanievsky lernte und lehrte, dass das Bibelstudium das oberste Gebot sei. Das Buch der Bücher ist im Judentum kein Gebetbuch, sondern ein geschriebenes Werk der Geschichte und des Gesetzes. Es enthält beginnend mit den Zehn Geboten die Werte des Abendlandes. Vieles davon liegt versteckt zwischen den Zeilen. Wer es ergründen und verstehen will braucht Lehrer wie Rabbiner Kanievsky. Das Christentum betet, dass man in den Himmel komme, das Judentum strebt nach einem Gott, der das Leben auf der Erde ordnet. Das Wort Himmel kommt in der Bibel nur ein einziges Mal – „am Anfang Schuf Gott Himmel und Erde“ – vor. Der Rest der biblischen Geschichte spielt auf Erden. Deshalb wünschen sich Juden bei fast jeder Verabschiedung „ein langes Leben und Gesundheit“. Ein Spruch, der mit der jüngsten Covid-Pandemie urplötzlich auch ausserhalb Israels weite Verbreitung fand.
Wenn Reb Chaim das Bibelstudium, das im Wesentlichen die fünf Bücher Moses, 22 Bände der Propheten und 60 Werke Talmud umfasst, beendete, war meistens ein Jahr vergangen und er begann wieder von Anfang. Fast 90 Jahre lang. Daraus zog er Kraft, Stärke und Weisheit für das Leben im Hier auf Erden. Diese Strahlkraft gab er an Tausende von Mitbürgern weiter, wenn sie um Kinderwunsch baten oder Genesung von schweren Krankheiten erflehten.
Die Säkularen in Israel stehen mit Unverständnis vor dem Trubel um einen Rabbiner und schimpfen über gesperrte Autobahnen, geschlossene Schulen und einen versäumten Arbeitstag. Ein Wirtschafts-Institut hat bereits einen finanziellen Schaden von rund einer halben Milliarde Euro errechnet. Die vier grossen Bevölkerungsgruppen Säkulare, National-Religiöse, Orthodoxe und Araber leben in dem Winzigland Israel fast ohne Berührungspunkte nebeneinander, wollen auch miteinander nichts zu tun haben. Die Brücke zwischen den Menschen ist das erfolgreiche Wirtschaftssystem, das zwar Reiche reicher macht und Arme ärmer. Aber es lässt keine Flüchtlingslager aufkommen und finanziert ein Sozialsystem, das das Schlimmste verhindert und jetzt den ersten 10 000 Ukraine-Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf anbietet. Nichts Vergleichbares gibt es im gesamten Nahen Osten.
Rabbiner Kanievskys Anhänger mögen mit ihren schwarzen, breitrandigen Hüten über dunklen Anzügen alle gleich aussehen. Im Judentum gibt es keinen Vatikan. Die Männer und ihre Frauen kommen aus den unterschiedlichsten Denk- und Lernschulen, die in ihren Traditionen leben. Reb Chaim war für sie alle der letzte Gelehrte, der Gott kannte wie es in fast jeder Synagoge über dem heiligen Schrein geschrieben steht: „Wisse vor dem Du stehst“. Deshalb heisst es in der Grabrede auf Reb Chaim: „er war der Grösste seiner Generation ….Der Prinz der Heiligen Schrift“.