Auch wenn in Europa viel getan wird, um die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis wachzuhalten, seit 2005 auch mit dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, nimmt der Antisemitismus seit Jahren zu. Auch die Relativierung oder Leugnung des Holocaust nimmt zu. Lässt sich dieser Trend gesellschaftspsychologisch deuten?
Der Internationale Holocaust-Gedenktag am 27. Januar erinnert an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Das KZ Auschwitz-Birkenau gilt als Synonym für die industrielle Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden.
Trotz Erinnerung an den Holocaust nimmt der Antisemitismus in Europa zu. Seit der Corona-Pandemie erreichen antijüdische Hass- und Verschwörungsmythen im Internet so viele Menschen wie noch nie. Daneben gibt es in grossen Zeitungen wie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen einen linksgrünen Anti-Israelismus. Die Migration aus islamisch dominierten Ländern bewirkt zudem eine Zunahme des islamischen Judenhasses in Ländern wie Frankreich oder Deutschland.
Auf der anderen Seite gibt es eine neue UN-Resolution gegen die Leugnung und Verfälschung der Nazi-Verbrechen. Die Resolution ruft die Mitgliedstaaten, UN-Organisationen und Akteure des Privatsektors wie Technologieunternehmen dazu auf, Massnahmen gegen den verstörenden Trend zur Holocaust-Leugnung und Verfälschung zu ergreifen und durch Bildung und Forschung die Erinnerung daran zu fördern.
Immer wieder stellt sich dabei die Frage, wie es eigentlich dazu kommt, dass die Verbrechen der Nazis relativiert werden. Es gibt verschiedene kulturhistorische, politische oder ideolgische Erklärungen, die auch in Büchern, Filmen oder Dokumentationen Anwendung finden und wertvolle Aufklärung leisten.
Eine weitere Ursache könnte gesellschaftspsychologischer Natur sein. Verstanden als ein psychologischer Mechanismus, der Menschen empfänglich macht für antijüdische Anschauungen. Es ist bekannt, dass hinter dem Antisemitismus oft Neid steckt. Eine Abneigung gegen die einmaligen Leistungen der jüdischen Kultur und Innovationskraft auf so vielen Gebieten. Eine Abneigung, die zu antisemtischen Hasstheorien über «reiche, mächtige Juden» führt, die man für alle möglichen Übel in der Welt verantwortlich macht.
Beim Holocaust wirkt dieser Mechanismus wie eine Art Kränkung. Der Holocaust steht für den totalen Zusammenbruch der Zivilisation, und zwar mitten in einem scheinbar aufgeklärten, zivilisierten Land. Das Land der Dichter und Denker, das Kant, Goethe und Beethoven hervorgebracht hat und das sozusagen bei hellem kulturellen Tageslicht in den Abgrund der Tötung von Millionen von Frauen, Kindern und Männern geraten ist.
Dazu sagte der Literaturnobelpreisträger und KZ-Überlebende Imre Kertész: «Ich habe im Holocaust die Situation des Menschen erkannt, die Endstation des grossen Abenteuers, an der der europäische Mensch nach zweitausend Jahren ethischer und moralischer Kultur angekommen ist.»
Die Endstation, von der Kertész spricht, lässt sich interpretieren als das Ende einer westlichen Illusion. Der Illusion, wonach Zivilisation etwas ist, das auf moralischem Boden zuverlässig voranschreitet. Dass der Mensch ebenfalls auf diesem Boden voranschreitet, als ein aufgeklärtes, gutes Wesen. Dass auch wir heute auf diesem aufgeklärten, guten Weg gehen.
So gesehen wirkt der Holocaust wie eine Kränkung des moralisch-kulturellen Egos, indem er an den bleibenden der Abgrund der Barbarei erinnert. Den Abgrund, der auch heute noch existiert, durch alle Wohlstands-Illusionen und technischen Errungenschaften hindurch.
Die Relativierung und Leugnung des Holocaust wird damit zur Relativierung und Leugnung der eigenen Kränkung und des eigenen Abgrunds. Denn irgendwo ahnen wir nämlich trotz allem, dass in jedem von uns ein Nazi schlummert. Wir ahnen, dass die Menschheit nicht besser geworden ist. Oder mit den Worten von Imre Kertész: «Seit Auschwitz ist nichts geschehen, was Auschwitz aufgehoben, was Auschwitz widerlegt hätte.»