Die Erinnerung weitergeben: Ausstellung mit Holocaust-Überlebenden nun auch online

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Online-Ausstellung. Foto Gamaraal Foundation
Online-Ausstellung. Foto Gamaraal Foundation
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Die Erinnerung an den Holocaust muss an die zukünftigen Generationen weitergegeben werden. Und am besten bleibt die Erinnerung wach, wenn Überlebende ihre persönliche Lebensgeschichte erzählen. Allein deshalb ist die Ausstellung der Schweizer „Gamaraal-Stiftung“ so wichtig. Nun kann man die Ausstellung, in der Holocaust-Überlebende von ihren Schicksalen berichten, erfreulicherweise auch online besuchen.

Viele haben heute noch ganz konkrete Situationen vor Augen. Vor dem inneren Auge sehen sie noch polierte Stiefel, Schäferhunde an der Leine deutscher Offiziere, Hakenkreuze und die Selektion in den Konzentrationslagern. Dass irgendjemand wirklich leugnen kann, dass der Holocaust stattgefunden hat, erscheint gerade angesichts der vielen Berichte jener, die die Shoah überlebt haben, wie ein Wahnwitz.

Dabei gibt es sie: Die Überlebenden, die heute noch davon erzählen können, was Nazis ihren Opfern angetan haben. So wie Egon Holländer, der heute noch vor allem ein Bild aus jener Zeit vor Augen hat: „Die Berge von Leichen“. Seine Mutter starb im Alter von 34 Jahren in Bergen-Belsen an Typhus. Er selbst überlebte bis zur Befreiung des Konzentrationslagers. Oder Eduard Kornfeld, der 2020 im Alter von 91 Jahren verstorben ist. Er wurde mit einem Viehwaggon nach Auschwitz transportiert und erinnert sich: „Als der Zug stoppte, hörte ich ein Gebrüll auf Deutsch: ‘Aussteigen!’“ Er sah, wie die SS einer Frau ihren Säugling wegnahm und ihn auf einen Lastwagen warf.

In der Ausstellung „The Last Swiss Holocaust-Survivors“ bekommen solche Holocaust-Überlebende eine Stimme. Die Schweizer Stiftung „Gamaraal“ erhielt für ihre Arbeit 2018 gemeinsam mit dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich den „Dr. Kurt Bigler-Preis“. Die Gründerin und Präsidentin der „Gamaraal-Stiftung“ sagt gegenüber Audiatur-Online über die Motivation für ihre Arbeit: „Wir befinden uns an einem historisch entscheidenden Moment. Es leben immer weniger Holocaust-Überlebende. Davor dürfen wir nicht unsere Augen verschliessen.“ Sie selbst ist die Tochter jüdischer Holocaust-Verfolgten, die das Glück hatten, dem Schicksal von sechs Millionen europäischen Juden zu entkommen. „Ich halte es für unsere Pflicht, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten“, sagt Winter.

Schulklassen nutzen die Ausstellung in Corona-Zeiten

Die 89-jährige Nina Weil blickt von dem grossen Schwarz-Weiss ernst, aber mit wachen Augen herab. In der Ausstellung erfährt man, wie einschneidend die Tätowierung der Nummer im KZ Auschwitz für sie als Kind war. „Ich hatte den Namen verloren, ich war nur noch eine Nummer“, sagte sie später. Noch immer ist die Nummer auf ihrem Arm zu sehen: 71978. Sie überlebte den berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele. Ihre Mutter jedoch starb 38-jährig an Erschöpfung, da war Nina Weil gerade einmal zwölf Jahre alt.

Foto Gamaraal Foundation

„Es liegt in der Verantwortung unserer Generation, den Fackelstab der Erinnerung weiterzutragen“, sagt „Gamaraal“-Leiterin Winter, die sich ausdrücklich allen Personen gegenüber dankbar zeigt, die bereit waren, ihre Lebensgeschichte mit den nächsten Generationen zu teilen. „Das ist nicht selbstverständlich. Denn das Erinnern kostet immer viel Kraft und kann oft kaum in Worte gefasst werden.“

Pünktlich zum Internationalen Holocaust Tag am 27. Januar ist „The Last Swiss Holocaust-Survivors“ auch online zu sehen. In einer Art virtuellem Raum kann sich der Besucher über seinen Web-Browser von Porträt zu Porträt bewegen. Die Pfeiltasten und die Maus helfen dabei. Nachdem die Ausstellung physisch bereits seit 2018 in mehreren Städten weltweit zu sehen war – unter anderem in Washington, New York, Berlin, Singapur, Shanghai, Athen, in Israel, Albanien, Luxemburg und in vielen Städten der Schweiz – , freut sich Winter, dass trotz Corona die wichtigen Berichte zu den Menschen kommen. Wegen der Pandemie mussten immer wieder geplante Ausstellungen abgesagt werden, nun können sogar noch mehr Menschen die Ausstellung sehen. „Schulen können von unserer Online-Ausstellung profitieren; sie nehmen vielleicht gerade den Holocaust durch, können aber wegen Corona keine Reisen zu Holocaust-Gedenkstätten durchführen. Dann können die Lehrer mit unserer Webseite arbeiten.“ Die Berichte der Überlebenden sind in 23 Sprachen abrufbar. Hinter dem Link „Watch my testimony“ finden sich jeweils Videoclips mit persönlichen Berichten der dargestellten Personen.

Gegründet hat Winter die Gamaraal-Stiftung 2014 mit dem Ziel, Holocaust-Überlebenden Hilfe zu leisten und Aufklärungsarbeit zum Thema Holocaust zu leisten. Häufig organisiert die Stiftung auch Besuche von Holocaust-Überlebenden in Schulklassen. Der Name „Gamaraal“ ist aus den Anfangsbuchstaben der vier Kinder Winters gebildet. „Weltweit leben nur noch ungefähr einige Hunderttausende Überlebendes der Shoa“, sagt Winter. In der Schweiz seien es ungefähr noch 400. Allerdings seien längst nicht alle Betroffenen bereit, sich als Holocaust-Überlebende oder auch nur als Jude zu erkennen zu geben. Das Trauma komme für viele sofort schmerzlich wieder hoch, wenn sie an die Zeit zurückdenken. Viele leben zudem in finanziell schwierigen Umständen, sogar 50 Prozent der Holocaust-Überlebenden lebten weltweit in Armut, besagen Zahlen der Jewish Claims Conference.

Die Ausstellung, nun auch übers Internet erreichbar, könne helfen, die oftmals abstrakten Berichte über die Shoah begreifbar zu machen, ist Winter überzeugt. „Der Holocaust wird so individualisiert, die Geschichten der Überlebenden bewahren wir für künftige Generationen auf.“

So wie die von Bronislaw Erlich, heute 98 Jahre alt, der mit ernstem Gesicht von seinem Foto blickt. Er berichtet, dass gegen seine bösen Erinnerungen keine Mittel helfen, auch keine Baldriantropfen. „Wenn ich zu Bett gehe und das Licht ausmache, dann denke ich an meine Eltern und meinen kleinen Bruder, die alle ermordet wurden. Ich habe schlaflose Nächte.“ Bronislaw Erlich überlebte den Nazi-Terror in einem Versteck bei einem Bauern, klärt seine Info-Tafel auf. Seine Eltern und sein Bruder jedoch wurden im KZ ermordet. Nun liegt es an Erlich, der später in der Schweiz erfolgreicher Lieferant für Maschinen wurde und heute zwei Kinder, fünf Enkel und zwei Urenkel hat, davon zu berichten, was er erlebt hat. Davon, dass der Holocaust tatsächlich stattgefunden hat und welche Grausamkeiten so vielen Menschen damals angetan wurden. Und sollte der 98-Jährige einmal nicht mehr sein, liegt es an Ausstellungen wie „The Last Swiss Holocaust-Survivors“ der Gamaraal-Stiftung, die Erinnerung wach zu halten und an nachfolgende Generationen weiterzutragen.

Online Ausstellung: https://gamaraal.com/exhibition/

Über Jörn Schumacher

Jörn Schumacher arbeitet als freier Journalist und lebt in der Nähe von Münster. Er hat Linguistik, Philosophie und Informationswissenschaft studiert und war viele Jahre Redakteur beim deutschen Webportal Israelnetz und beim Christlichen Medienmagazin pro.

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