10. Juli 2021 – auf Deutschland rollt eine Katastrophe zu. Aber es ist Samstag, der Leiter des Katastrophenschutzes ist im Urlaub, seine Mitarbeiter offensichtlich im Wochenende und die Meldungen der Wetterdienste können in den Behörden nicht wahrgenommen werden. Wenige Tage danach trifft das Unglück auf unvorbereitete Menschen. Die Katastrophe hielt sich nicht an den Dienstplan der Ämter. Die Flut kam nachts – und da hatte man schon Feierabend gemacht. “Tod durch Mailverteiler“ titelt später die Bildzeitung und schreibt „Roger Lewentz (58, SPD), Innenminister von Rheinland-Pfalz sagte, es habe vor der Flut „keinen Hinweis“ darauf gegeben, ‚dass es so dramatische Ausmasse annehmen würde`. Seinen Krisenstab habe deshalb am Flut-Abend schon um 19.30 Uhr verlassen.“- Dem zuständigen staatlich finanzierten Sender WDR hat es offenbar die Sprache verschlagen.
Von Jerusalem aus schauen wir fassungslos nach Deutschland. Sind froh, dass die Verwandten sich melden: Nur das Haus ist betroffen… Viele andere haben weniger Glück. Ganze Landstriche sehen aus, wie nach dem Krieg. Aber auch jetzt sind die offiziellen Stellen in Deutschland nicht fähig, entsprechend schnell zu reagieren, geschweige denn, die Hilfe zu koordinieren. Fragen drängten sich auf. Wie kann das sein – wir haben doch in Deutschland einen der modernsten Wetterdienste Europas? Wieso wurden Tausende Menschen so überrascht? Wenn es der „Klimawandel“ ist, wie es schon am 2. Tag heisst, bleibt doch die Frage offen: Stehen wir der dem Klimawandel denn so wehrlos gegenüber? Was wäre nötig zur Prävention? Wir versuchen Antworten zu finden.
Umgang mit Katastrophen kann man lernen
Anfrage beim Militärsprecher der IDF. Nach Tagen werden wir mit dem zuständigen Offizier verbunden. Unser Gesprächspartner ist Golan Vach, Kommandeur der israelischen nationalen Such- und Rettungseinheit „Heimatfront“. Er ist im Auto unterwegs. Das 16-minütige Telefonat ist für uns wie der Bericht aus einer anderen Welt. Der Leiter eines Teams von Such- und Rettungsexperten war gerade aus Miami zurückgekehrt. Am 24. Juni stürzte dort der Champlain Towers South ein, ein 12-stöckiges Gebäude in Surfside, einer Stadt nördlich von Miami Beach. Dutzende von Bewohnern wurden im Schlaf von den Trümmern ihres Hauses erschlagen. Das siebenköpfige israelische Team des Home Front Command der IDF flog drei Tage nach dem Einsturz in die USA und begann unter der Leitung von Vach Vermisste zu finden und Tote zu bergen.
Die „Heimatfront“ wurde im Februar 1992 eingerichtet, als Lehre aus dem Irak-Krieg. Sie sollte die Bürger auf Notzeiten vorbereiten. Doch die Einheit, der heute General Golan Vach befehligt, wurde schon 10 Jahre früher geschaffen, als eine Autobombe in der südlibanesischen Stadt Tyros das israelische Militärhauptquartier zerstört hatte. Das „Kommando Heimfront“ hat einen legendären Ruf. Die hochqualifizierten Spezialisten für vorsichtige Räumarbeiten wurden schon überall in der Welt eingesetzt, in Nepal, Indien, in der Türkei und in Brasilien.
Menschenwürde über den Tod hinaus
Eine besondere Aufgabe der israelischen Retter ist die Identifizierung der Toten mit allen heute zur Verfügung stehenden Methoden. Auch hier begegnet der Glaube der Moderne: Im Judentum gibt es eine Tradition, dass jeder Tote vollständig begraben werden muss, um am Ende der Tage auch wieder vollständig auferstehen zu können. Seine Leute vermeiden, einfach Bulldozer zu schicken und die Trümmer beiseitezuräumen. Seiner Einheit geht es darum, Vermisste zu finden, „ohne sie zu zerstören“. Deshalb werden „keine Bulldozer hingeschickt, weil die alles zerreissen“. Sie sehen, wo vielleicht Menschen sein könnten. Dann wird der Beton sorgsam beiseite geräumt, damit die Familien ihre toten Vermissten „komplett“ erhalten. Die Israelis haben dafür eine Methode entwickelt, Menschen über ihre Handys zu orten und mit Suchhunden zu finden. So kann deren Standort genau ermittelt werden.
Golan Vach im Einsatz in Miami. Video Arutz Sheva.
Deutschlands Aufgabe: Wehrdienst neu denken
Der Kommandeur des Home Front Command ist ein Offizier im Rang eines Generalmajors, der Mitglied des Generalstabsforums und auch der Leiter des Zivilschutzdienstes ist. Ihm untersteht die Rettung, der Befehl über die Rettungsmannschaften, die Gestaltung der Schutzräume, die Aufklärung und die Belehrung der Bevölkerung für Notfälle. In Israel arbeitet die „Heimatfront“ in enger und kompletter Zusammenarbeit mit Rettungsorganisationen wie Polizei, Feuerwehr und medizinischen Hilfsdiensten, mit lokalen Behörden, Notfallorganisationen und Ministerien. Sie ist eine Rettungs- und Ausbildungsbrigade, die auch die Bevölkerung durch entsprechende lebensrettende Schulungen, Übungen und Richtlinien auf Notfälle vorbereitet. Das Kommando ist in 5 Hauptbezirke mit ihren jeweiligen Unterbezirken aufgeteilt, die mit den 256 lokalen Behörden rund um die Uhr Kontakt halten. In den Einheiten werden Reservisten eingesetzt, die während ihres Militärdienstes bei dem Kommando ihre ersten Erfahrungen sammeln konnten und inzwischen als Ärzte, Ingenieure, Techniker oder Feuerwehrleute arbeiten.
Diese klare Struktur fehlt der Bundesrepublik. So war die deutsche Regierung zwar durch das Europäische Flutwarnsystem (Efas) schon frühzeitig vor dem Starkregen gewarnt – die Daten dazu hatte u.a. auch der Deutsche Wetterdienst geliefert – aber die Menschen in den betroffenen Gegenden hatten nichts davon erfahren. In Israel hätte das nicht passieren können. Da sind die Warnsysteme seit jeher zuverlässig mit dem Rundfunk koordiniert und das Abhören der Nachrichten ist landesweit eine Art Volkshobby. Gleichgültig, wo man sich gerade aufhält, ob zuhause, oder am Arbeitsplatz, im Bus, in der Bahn oder auf der Strasse: Überall hört man Radio zur vollen Stunde und notfalls auch mal ununterbrochen. Katastrophenmeldungen werden automatisch zum Aufmacher. Im Fall von Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen oder Libanon kreischen automatisch die Handys in den betroffenen Ortschaften oder Stadtvierteln, egal ob Grossstädte wie Tel Aviv oder kleine Kibbuzim an der Gazagrenze im Schussfeld liegen. Im Fernsehen wird dann rechts unten auf dem Bildschirm eine unübersehbare Tabelle eingeblendet mit den Namen der akut bedrohten Orte. Selbst wer sich von allen Kommunikationsmitteln abnabelt, kann sich in Israel darauf verlassen, die Alarmsirenen auf den Dächern zu hören, um noch rechtzeitig in den mit Stahlbeton ausgestatteten „sicheren Raum“ in der Wohnung, ins Treppenhaus oder in einen Luftschutzbunker zu flüchten. Jederzeit kann man in Israel auch die Notrufnummer der Stadt anrufen, da sitzen dann nicht nur Polizei und Feuerwehr, wie in Deutschland, sondern auch Vertreter der Armee, jeweils 2-3 Offiziere. 24/7 und 365 Tage im Jahr. Auch die neue Home Front Command-App ist direkt mit nationalen Systemen verbunden, die den Alarm an jedes Gerät übertragen, sobald er in Sirenen- und Kommunikationssystemen gehört wird, und manchmal sogar davor. Sobald die Benachrichtigung am Smartphone eingeht, werden nicht nur entsprechende Anweisungen empfangen, sondern sogar die Leute registriert, die ihre Flucht unterbrechen. Wichtig für die Rettungsdienste, falls jemand stürzt. „Wir planen, häufige Updates auf Anregung von Benutzern vorzunehmen – Sie können uns im Informationszentrum in der App und auch über den App Store kontaktieren. Wir lesen jede Antwort“, sagte Major Itai Zamir, der zuständige Offizier. In einer Nacht haben Hunderttausende von Benutzern diese App heruntergeladen (www.idf.il) Aus der EU erfahren wir dagegen: „Eine neue Richtlinie verpflichtet die Mitgliedländer, bis zum 21. Juni 2022 ein Warnsystem via Mobiltelefon einzuführen. (…) Wie der deutsche Innenminister Horst Seehofer bekanntgab, soll die Bevölkerung künftig auch via Push-Nachricht auf dem Handy alarmiert werden.“ (NZZ).
Rund um die Uhr dem Leben verpflichtet
Kommandeur Vach trägt selber, so erzählt er uns, ohne dass wir fragen, eine Kippa – er ist also ein frommer Jude. Aber sein Team ist rund um die Uhr im Dienst, weil das Gebot der Lebensrettung noch wichtiger ist, als die Einhaltung des Schabbat. Wir erinnern uns: Deutschland, dessen Kirchen am Sonntag gähnend leer sind, pflegt in den Amtsstuben die Sonntagsruhe und auf eine Flut, die über Nacht kommt, kann man nicht reagieren, weil man Feierabend hat. Deutsche Ämter sind am Wochenende nicht besetzt. Zwar ertrinken auch in Israel Menschen, die trotz Warnung bei Starkregen ihr Auto aus der Tiefgarage holen wollen, oder gerade Überschwemmungstage für Wanderungen durch die Wüste nutzen, aber ein komplettes Versagen der Vorwarn-Systeme wie jetzt in Deutschland kann man sich in Israel nicht vorstellen.
Das israelische Kommando lernt vor allem bei den Auslandseinsätzen immer wieder dazu. In Brasilien zum Beispiel waren sie im Einsatz nach Dammbrüchen. Das war eine Gelegenheit, zu untersuchen, wie weit Menschen mit dem Wasser weggeschwemmt werden. Die damals entwickelten Computer-Modelle könnten heute bei anderen Hochwasser-Katastrophen verwendet werden.
Zu den Vorgängen in Deutschland will sich der israelische Kommandeur nicht äussern. Denn er sei nicht dort gewesen und einen Eindruck über Ursachen und Folgen könne man sich nur selber vor Ort machen. Deutschland habe jegliche Hilfsangebote aus dem Ausland zurückgewiesen, weil es über ausreichend qualifizierte Hilfskräfte verfüge. Gleichwohl sei ein Team von 15 hochqualifizierten Spezialisten von Israel nach Deutschland gekommen, um sich in der Eifel und in NRW umzuschauen und gegebenenfalls, falls das gewünscht wird, ein paar Ratschläge zu erteilen.
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