Ist die Zukunft des europäischen Judentums in Gefahr?

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Davidstern eingeritzt in einen Mauerstein im jüdischen Marais Viertel in Paris. Foto IMAGO / Kolvenbach
Davidstern eingeritzt in einen Mauerstein im jüdischen Marais Viertel in Paris. Foto IMAGO / Kolvenbach
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Drei übergreifende Trends verändern Europa und könnten als Nebeneffekt zum Niedergang der jüdischen Gemeinschaften führen: wirtschaftlicher und sozialer Verfall, massive Migration aus islamischen Staaten und steigender Antisemitismus.

von Dov Maimon

Bröckelt der Kontinent, in dem der Grossteil des Weltjudentums seine Wurzeln hat – und in dem Konzepte wie Liberalismus, Menschenrechte, Nationalismus und sogar Zionismus geboren wurden – unter uns weg?

Diese Frage ist schwer zu beantworten. Auf der einen Seite sind die jüdischen Gemeinschaften in Westeuropa quicklebendig und gedeihen. Paris ist die Welthauptstadt der jüdischen Gastronomie mit mehr als 250 koscheren Restaurants, von denen einige ausgesprochene Spitzenrestaurants sind.

London ist die Heimat der vielleicht einheitlichsten jüdischen Community der Welt. Vor zwei Jahren schlossen sich Satmar Chassidim mit Reform-Rabbinern zusammen, um den Führer der britischen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, zu bekämpfen und es gelang ihnen, den Antisemitismus für eine gewisse Zeit aus der Öffentlichkeit und dem politischen Kontext zu verbannen.

Tausende von Israelis sind in den letzten Jahren nach Berlin umgezogen. Und im Grossen und Ganzen ist das Leben im guten alten europäischen Galut, dem “Exil”, derzeit und aus wirtschaftlicher Sicht noch sehr angenehm.

Darüber hinaus hat das 21. Jahrhundert eine unerwartete Entwicklung in Westeuropa mit sich gebracht. Eine neue Studie des in London ansässigen Institute for Jewish Policy Research zeigt, dass junge europäische Juden stärker mit der jüdischen Gemeinschaften verbunden sind als ihre Eltern.

Insgesamt sind die Juden dort religiöser eingestellt, als sie es noch vor 20 Jahren waren. Dementsprechend ist auch die Mischehenquote tendenziell rückläufig. Überraschenderweise finden sogar Juden, die sich früher nicht mit dem jüdischen Leben und der jüdischen Gemeinde beschäftigt haben, wieder Anschluss.

Der derzeitige Prozess läuft dem historischen Trend des jüdischen Loslösungsprozesses entgegen, der mit der Emanzipation und der Moderne begann. Er unterscheidet sich auch grundlegend von der Situation auf der anderen Seite des Atlantiks, wie in der Pew-Studie über amerikanische Juden vom Mai 2021 beschrieben wird. In den USA sind die meisten jungen Juden weniger religiös und weniger mit jüdischen Institutionen verbunden als ihre Eltern.

Wenn die europäischen Trends so positiv sind, warum sind wir dann besorgt? Und warum sagen 45 Prozent der jungen europäisch-jüdischen Erwachsenen, dass sie erwägen, den Kontinent zu verlassen, weil sie dort keine Zukunft für ihre Kinder sehen?

Die Entscheidung zur Auswanderung wird sowohl von Push- als auch von Pull-Faktoren angetrieben. Als Herzl Ende des 19. Jahrhunderts «Der Judenstaat» veröffentlichte, lebten 90 Prozent der Juden der Welt in Europa. Nach dem Holocaust machte das europäische Judentum 35 Prozent der jüdischen Weltbevölkerung aus. Heute leben nur noch 9 Prozent der Weltjuden – 1,2 Millionen – dort.

Dies ist ein anhaltender Trend. Laut dem Doyen der jüdischen Demographie, Professor Sergio Della Pergola, haben 100’000 französische Juden (20 Prozent der lokalen Gemeinde) Frankreich in den letzten zwei Jahrzehnten verlassen, die Hälfte von ihnen nach Israel, die andere Hälfte in andere Länder.

Die Zukunft des europäischen Judentums ist unklar, weil die Zukunft Europas selbst in Nebel gehüllt ist. Die Gefahr einer Verschlechterung des Zustands des europäischen Judentums liegt nicht an schlecht funktionierenden Gemeinden, sondern vielmehr an globalen Trends, die auch die Juden des Kontinents betreffen.

Drei übergreifende Trends verändern Europa und könnten als Nebeneffekt zum Niedergang der jüdischen Gemeinden führen: wirtschaftlicher und sozialer Verfall, massive Migration aus islamischen Staaten und steigender Antisemitismus.

Was bedeutet das für die Zukunft?

Wir müssen Vorsicht walten lassen beim Versuch, die jüdische Zukunft vorherzusagen. Die jüdische Geschichte birgt viele überraschende Wendungen und wird dies wahrscheinlich auch weiterhin tun. Die Juden sind ein unendlich einfallsreiches Volk, Experten im Schmieden neuer Wege des Überlebens.

Sollten die oben genannten Trends jedoch anhalten, ist zu erwarten, dass die jüdische Bevölkerung Europas weiter schrumpfen wird. Eine beträchtliche Anzahl europäischer Juden wird in gastfreundlichere Gefilde auswandern, während andere ihr jüdisches Profil reduzieren und ihr Jüdischsein verbergen werden, um dem Judenhass zu entgehen.

Wir können erwarten, dass diejenigen, die in Europa bleiben, das Modell der südafrikanischen und brasilianischen Gemeinden annehmen und sich zunehmend isolieren. Sie werden sich vermehrt abschotten und in geschützten Enklaven leben, die weitgehend vom Rest der Gesellschaft abgeschirmt sind.

Israel hat natürlich die Möglichkeit, bis zu einem gewissen Grad zu intervenieren. Wie bereits erwähnt, erwägen 45 Prozent der jungen Juden, den Kontinent zu verlassen. Umfragen zeigen, dass 60 Prozent von ihnen Israel als bevorzugtes Ziel sehen, aber sie werden durch erwartete Schwierigkeiten abgehalten. In den nächsten fünf Jahren 50’000 französische Juden und 50’000 zusätzliche gebildete und einfallsreiche westeuropäische Juden nach Israel zu bringen, ist alles andere als ein unerreichbarer Traum. Es wird die Weltgeschichte nicht verändern, aber es wird zu einer besseren jüdischen Zukunft beitragen.

Sollte die israelische Regierung die notwendigen Mittel und Ressourcen bereitstellen, wären die Jewish Agency und andere relevante Organisationen in der Lage, Zehntausende von jungen, gebildeten Jüdinnen und Juden, viele mit beruflichen Qualifikationen, dazu zu bringen, nach Israel einzuwandern, anstatt sich zu assimilieren oder nach Nordamerika umzusiedeln.

Dafür sind zwei Dinge erforderlich: eine Regierung, der das Weltjudentum am Herzen liegt, und der politische Wille zu handeln.

Dov Maimon ist ein Senior Fellow beim Jewish People Policy Institute (JPPI). Er leitet die Aktivitäten des Instituts in Europa und war der Urheber des Aktionsplans der israelischen Regierung von 2015, um die sich entwickelnde Massenmigration französischer Juden nach Israel zu bringen. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate. Übersetzung Audiatur-Online.